Verlogen und schädlich

Jede Stimmungsmache gegen Rumänen und Bulgaren ist nicht nur unwürdig. Wer mitmacht, ignoriert: Die Zuwanderer sind ein Gewinn.

 

Von CLEMENT BOOTH

 

Es ist zwar gut ein Jahrhundert her, dass ein Ire die Superschurkenfigur Dracula aus dem rumänischen Transsylvanien in die Buchwelt einführte. Doch heute werden in mehreren Ländern Westeuropas wieder Schauergeschichten zu Rumänien und Bulgarien erzählt, den beiden ärmsten Ländern der Europäischen Union. Diese Geschichten sind kein Literaturphänomen, sondern ein Element gegenwärtiger Politik und des Boulevards, insbesondere in Großbritannien. Mit dem Schlagwort der „Armutseinwanderung“ reagieren Scharfmacher auf die Freizügigkeit für alle Bürger der 28 Mitgliedsstaaten der EU. Diese bedeutet, dass nach siebenjähriger Wartezeit nun auch Bulgaren und Rumänen EU-weit einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz frei wählen können. Jeder Befürworter einer offenen Gesellschaft und der freien und sozialen Marktwirtschaft müsste es begrüßen, dass nun endlich die Freizügigkeit uneingeschränkt in der gesamten EU gilt. Doch aus verschiedenen Parteien und Regierungen westeuropäischer Demokratien tönt es, dies sei toxisch, weil ein gewaltiger Einwanderungsschub verarmter Europäer in die Sozialsysteme ihrer Länder bevorstehe.

 

Diese Abwehrdebatte ist in gleich mehrerer Hinsicht verlogen und schädlich. Sie appelliert an diffuse Gefühle und arbeitet mit „Befürchtungen“ – eine bequeme Allerweltfloskel, die leider  immer noch rhetorisch und politisch zündet, wenn die Unterfütterung der Position mit Fakten dürftig wird. Die Realität in Großbritannien, Deutschland oder den Niederlanden und Belgien zeigt sich darin aber nur in gekrümmten Spiegeln. Es ist ein Zerrbild, das Populisten vor den Europa- und anderer Wahlen von rumänischen und bulgarischen Zuwanderern entwerfen.

 

Es war keine lebensferne Europabürokratie, die den freien Verkehr von Gütern, Kapital und Personen zur Essenz der EU erklärt hat. Das Mandat dazu stammt von den Mitgliedsstaaten selbst und dem Europäischen Parlament. Sie alle sprachen sich dafür aus, Rumänien und Bulgarien trotz eines nicht übersehbaren Wohlstandsgefälles in die EU aufzunehmen. Was es bedeuten würde, Länder aufzunehmen, deren Bürger im Schnitt ein Bruttojahreseinkommen zwischen 4000 und 5500 Euro in die EU erzielen, konnte niemandem verborgen bleiben. In Deutschland beträgt dies mehr als 41000 Euro.

 

Es kann auch nicht überraschend sein, was diese Entscheidung zwingend bedingt: dass auch für Rumänen und Bulgaren die Vereinbarungen über das Diskriminierungsverbot von EU-Bürgern gelten; außerdem die  Pflicht zur Gleichbehandlung europäischer Arbeitnehmer, das Europäische Fürsorgeabkommen und die Verordnung zur Koordinierung der Sozialsysteme. Unter diesen Umständen ist es nur recht und billig, wenn Rumänen und Bulgaren in der gesamten EU Arbeit suchen. So wie Unternehmen aus Westeuropa selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen, gemäß EU Freizügigkeitsprinzip in Bukarest und Sofia Betriebe zu gründen, um von den dortigen niedrigen Löhnen und sonstigen günstigen Produktionskosten zu profitieren. Im Übrigen: Die Personenfreizügigkeit und das Diskriminierungsverbot bieten Rumänen und Bulgaren gar keine andere Wahl, als im Zuge ihrer Emigration auch in die Sozialsysteme des Ziellandes einzuwandern. Die in der zurückliegenden Woche bekannt gewordenen Zahlen über deutlich mehr Hartz-IV-Bezieher aus diesen Ländern sind kein Alarmzeichen. Es steht ihnen ja auch nicht jede Sozialleistung automatisch zu. Deren Bezug ist abhängig von den Einzelfallregelungen in jedem EU-Mitgliedsland und seiner Bereitschaft, nationale Vorkehrungen gegen Missbrauch tatsächlich auch durchzusetzen.

 

Nicht die magnetische Wirkung üppiger Sozialleistungen lässt die Menschen in den Westen ziehen, sondern die starke Wirtschaftskraft und die Aussicht auf Arbeit. Das zeigt in Deutschland die Arbeitslosenquote unter Rumänen und Bulgaren, die mit 7,6 Prozent (Mitte 2013) weit unter dem Durchschnitt aller Immigranten liegt und etwas geringer ist als im Bevölkerungsdurchschnitt. Von einer unverhältnismäßig starken Belastung der Sicherungssysteme kann auch nicht die Rede sein. Der Bezug von Sozialleistungen und Kindergeld ist mit 10 Prozent beziehungsweise 8,8 Prozent erheblich niedriger als bei den übrigen Ausländern. Die Probleme in Großstädten mit starker Zuwanderung sind real, aber gesamtgesellschaftlich lösbar. Dass die Integration der Roma eine besonders harte Nuss sein würde, überrascht nicht. Es ist nicht redlich, diese Herausforderung mit der Situation aller übrigen Rumänen und Bulgaren zu vermischen.

 

Ein Aspekt kommt in dieser Debatte entschieden zu kurz: die Betrachtung darüber, welche Vorteile die Zuwanderung von überwiegend jungen, gut ausgebildeten Arbeitnehmern einem schrumpfenden und alternden Land verschafft. Entweder wird das Argument kurzerhand als „reines Kosten-Nutzen-Denken“ abgetan, was eine weitere Variante versteckter Fremdenfeindlichkeit ist. Oder das Argument fällt ganz unter den Tisch. Dabei benötigt Deutschland nach Schätzung des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) bis zum Jahr 2025 etwa 1,5 Millionen zusätzliche Fachkräfte aus dem Ausland, um seinen Wohlstand zu halten. Schon heute sind junge Rumänen und Bulgaren an der Finanzierung des deutschen Rentensystems beteiligt. Ihre Ausbildung – zwei von dreien verfügen über mindestens eine Berufsausbildung – wurde von den Steuerzahlern in Rumänien und Bulgarien finanziert, nicht von denen hierzulande. Jeder Einwanderer aus diesen Ländern erbringt nach Berechnung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) pro Jahr einen volkswirtschaftlichen Gewinn von 2000 Euro. 

 

Schon aus diesen Fakten – neben etwas so Altmodischem wie Respekt und Menschlichkeit – ergibt sich, dass das Schlagwort „Armutseinwanderung“ die Migrationsdebatte in eine völlig falsche Richtung lenkt; Europawahlen hin oder her. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Freizügigkeit der EU für alle Länder ein Wachstumstreiber ist, auch für Länder wie Deutschland und Großbritannien. Natürlich muss dabei überprüft werden, wie die Sozialsysteme an große Wanderungsbewegungen angepasst werden können. Doch es wäre kontraproduktiv, deshalb die Freizügigkeit einzuschränken. Die Diskussion der vergangenen Wochen zeigt, dass in den reichen Gesellschaften zum Teil immer noch große Verunsicherung herrscht; kaum erstaunlich nach den Erschütterungen durch die Finanz- und Euro-Krise. Doch Protektionismus ist keine Lösung. Europa kann auch in Zukunft nur mit Gemeinschaftssinn, Offenheit und Mut prosperieren.  

 

Mit freundlicher Genehmigung der Süddeutschen Zeitung.

Clement Booth
Clement Booth

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