Gerät die Demokratie durch die Krise in Gefahr?

Der Präsident des Europäischen Parlamentes kritisiert das Demokratiedefizit in Brüssel und Europas Versagen in der Krise. Zum Auftakt der ‚Reden über Europa 2013’ in Köln warnt Martin Schulz vor einer Entdemokratisierung und einem Bedeutungsverlust Europas im globalen Wettbewerb. Nur wenn Europa seine Werten glaubwürdig vertrete, könne es das Vertrauen seiner Bevölkerung zurückgewinnen und weltweit konkurrenzfähig bleiben.

 

 „Die Europäische Union ist heute als Ganzes bedroht. In Deutschland sind die Zustimmungswerte auf einem historischen Tief und in Teilen Südeuropas wird die EU als anonyme Besatzungsmacht wahrgenommen…Wir müssen deshalb das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in Europa zurückgewinnen. Dafür muss die Europäische Union demokratischer werden. Denn das Prinzip der Gewaltenteilung, das die Demokratie auf nationaler und regionaler Ebene belebt, wird Europa vorenthalten!“ konstatiert der Präsident des Europaparlaments Martin Schulz am Sonntag im Historischen Rathaus der Stadt Köln. Die Allianz Kulturstiftung hatte Schulz als Eröffnungsredner zu den diesjährigen Reden über Europa eingeladen, die sie seit 2006 europaweit organisiert. Das Thema in der Domstadt klang alarmierend und füllte die Piazetta des Kölner Rathauses bis auf den letzten Platz: ‚Demokratie in Gefahr – Wie die Krise das Fundament Europas erschüttert’.

 

Bei seinem leidenschaftlichen Plädoyer für mehr Demokratie in Europa ließ es Schulz an Kritik gegenüber der Praxis der Entscheidungsfindung in Brüssel nicht fehlen: Während der Krise habe sich der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs ständig ‚selbst ermächtigt’, Entscheidungen an den Parlamenten vorbei zu fällen. Dieser ‚permanente Ausnahmezustand’ würde zu einer schleichenden ‚Entparlamentarisierung Europas’ führen,zu einer Entmachtung sowohl der nationalen Volksvertretungen wie auch des Europaparlamentes. So sei es z.B. ein Unding, dass das Europäische Parlament, mit seinen demokratisch gewählten Vertretern aus allen EU-Mitgliedsländern, kein eigens Initiativrecht habe, neue Gesetzesvorlagen vorzuschlagen – so wie es in Deutschland der Bundestag und Bundesrat sowie die Bundesregierung tun dürfen.

 

Heftig kritisiert Martin Schulz den Europäische Rat, der sich wie eine Regierung Europas verhalte. Letztendlich verfolge aber jeder der darin vertretenen 27 Staatschefs in erster Linie nationale Interessen. Da der Rat seine Entschlüsse aber nur nach dem Prinzip der Einstimmigkeit fassen dürfe, sei die EU heute wie ein ‚gefesselter Riese’, der nicht effizient und schnell genug auf die Veränderungen in der Welt reagieren kann. Der Vergleich Europas mit einem gefesselten Riesen taucht übrigens auch auf dem Titel seines neuen Buches auf, das wenige Stunden vorher in den Buchhandlungen erschienen war (‚Der gefesselte Riese – Europas letzte Chance’, Rowohlt Verlag).

 

Die wichtigen Entscheidungen sollten - so Parlamentspräsident Schulz - nach dem Prinzip der Subsidiarität  gefällt werden und zwar dort, wo sie die Menschen direkt betreffen. „Je ortsnäher, umso besser“. Vor allem fehle in Brüssel eine ‚Kompetenzordnung’:  „Was national gemacht werden kann, muss nicht kümmern“. Wo aber die ‚Kraft der Gemeinschaft’ gebraucht werde, sei die EU gefordert. Deshalb forderte Schulz, die Demokratie in Europa weiter zu entwicken, mit ihren Rechten und Pflichten, ihren Werten und Freiheiten, die ‚weltweit einzigartig’ seien.Nur ein demokratisches, transparentes und wertebasiertes Europa, das seine Bürger in die Gestaltung der Zukunft aktiv mit einbeziehe, könne vor der globalen Bedeutungslosigkeit retten.

Gerät die Demokratie durch die Krise in Gefahr?
Die Aufmerksamkeit und der nachfolgende Applaus des Publikums zeigte, dass Europa – zumindest in der Rheinmetropole - nicht so unpopulär zu sein scheint, wie von vielen befürchtet.

Die Aufmerksamkeit und der nachfolgende Applaus des Publikums zeigte, dass Europa – zumindest in der Rheinmetropole - nicht so unpopulär zu sein scheint, wie von vielen befürchtet.

Nach seiner europapolitischen Grundsatzrede stellte sich Martin Schulz einer Diskussion mit der Bundesverfassungsrichterin Susanne Baer und dem Schriftsteller Navid Kermani. Das Gespräch moderierte Joachim Frank, Chefreporter der Tageszeitung Kölner Stadtanzeiger, die zusammen mit dem Westdeutschen Rundfunk Medienpartner der Allianz Kulturstiftung sind. Die Politik- und Rechtswissenschaftlerin Baer wies auf die zunehmenden ‚sozialen Verwerfungen’ hin, die vielen jungen Menschen die gesellschaftliche Teilhabe verwehre. „Prakarität bedeutet heute nicht nur, arbeitslos zu sein, sondern oftmals auch keine Aussicht zu haben, je eine Arbeit zu erhalten“. Diese Aussichtslosigkeit lasse immer mehr Menschen am europäischen Projekt zweifeln. Der Hannah-Arendt-Preisträger Kermani wies darauf hin, dass die jetzige Krise nicht nur eine Finanz-, Wirtschafts- oder Staatsschuldenkrise sei, sondern eine tiefe politische Krise der EU widerspiegle, die schon vor Jahren begonnen habe. Jahrelang hätten europäische Regierungspolitiker die europäische Gemeinschaft schlecht und geradezu verächtlich behandelt, so dass es ihn nicht verwundere, dass die Einstellung der öffentlichen Meinung immer negativer wurde. Kurzfristige nationale Interessen, die meistens von nahenden Wahlen diktiert wurden, seien über langfristige europäische Anliegen gestellt worden. Martin Schulz konnte das nur bestätigen und sprach von einem ‚blame game’, das nach jedem Gipfeltreffen der EU-Regierungs- und Staatschefs ausbreche: Jeder einzelne gebe dann eine Pressekonferenz, in der er darstelle, wie er die Interessen seines Wahlvolkes gegen die der anderen Europäer durchgesetzt habe.

Gemäß Schulz „funktioniert Europa aber nur komplementär dort, wo der Nationalstaat nicht ausreicht“. Der Parlamentspräsident, dem man Ambitionen nachsagt, sich nach den nächsten Europawahlen 2014 zum Kommissionspräsident wählen zu lassen, hofft auf die Herausbildung eines neuen Gemeinschaftssinns, den Europa, aber auch die Welt dringend zur Lösung der großen Probleme unserer Zeit benötigen: sei es bei der Bewältigung des Klimawandels und damit verbundener Hungerkatastrophen, der Bevölkerungsentwicklung und globaler Wanderbewegungen, bei der Eindämmung der Spekulation und der Wirtschaftskrise. Insofern müsse und könne Europa hier ein Modell auch für andere Regionen der Welt liefern, indem es wichtige Bereiche der vergemeinschafte und geschlossen mit einer Stimme spreche.

Die Aufmerksamkeit und der nachfolgende Applaus des Publikums zeigte, dass Europa – zumindest in der Rheinmetropole - nicht so unpopulär zu sein scheint, wie von vielen befürchtet. Gemischter ist die Stimmungslage da schon in London und Bukarest, wo die Europareihe der Allianz Kulturstiftung als nächstes ‚gastieren’ wird.

Diese Aussagen stehen, wie immer, unter unserem Vorbehalt bei Zukunftsaussagen:

 

Michael M. Thoss
Allianz Kulturstiftung
Tel. +49.30.209.157.31-30
Email senden