„Die Europäische Union ist heute als Ganzes bedroht. In Deutschland sind die Zustimmungswerte auf einem historischen Tief und in Teilen Südeuropas wird die EU als anonyme Besatzungsmacht wahrgenommen…Wir müssen deshalb das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in Europa zurückgewinnen. Dafür muss die Europäische Union demokratischer werden. Denn das Prinzip der Gewaltenteilung, das die Demokratie auf nationaler und regionaler Ebene belebt, wird Europa vorenthalten!“ konstatiert der Präsident des Europaparlaments Martin Schulz am Sonntag im Historischen Rathaus der Stadt Köln. Die Allianz Kulturstiftung hatte Schulz als Eröffnungsredner zu den diesjährigen Reden über Europa eingeladen, die sie seit 2006 europaweit organisiert. Das Thema in der Domstadt klang alarmierend und füllte die Piazetta des Kölner Rathauses bis auf den letzten Platz: ‚Demokratie in Gefahr – Wie die Krise das Fundament Europas erschüttert’.
Bei seinem leidenschaftlichen Plädoyer für mehr Demokratie in Europa ließ es Schulz an Kritik gegenüber der Praxis der Entscheidungsfindung in Brüssel nicht fehlen: Während der Krise habe sich der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs ständig ‚selbst ermächtigt’, Entscheidungen an den Parlamenten vorbei zu fällen. Dieser ‚permanente Ausnahmezustand’ würde zu einer schleichenden ‚Entparlamentarisierung Europas’ führen,zu einer Entmachtung sowohl der nationalen Volksvertretungen wie auch des Europaparlamentes. So sei es z.B. ein Unding, dass das Europäische Parlament, mit seinen demokratisch gewählten Vertretern aus allen EU-Mitgliedsländern, kein eigens Initiativrecht habe, neue Gesetzesvorlagen vorzuschlagen – so wie es in Deutschland der Bundestag und Bundesrat sowie die Bundesregierung tun dürfen.
Heftig kritisiert Martin Schulz den Europäische Rat, der sich wie eine Regierung Europas verhalte. Letztendlich verfolge aber jeder der darin vertretenen 27 Staatschefs in erster Linie nationale Interessen. Da der Rat seine Entschlüsse aber nur nach dem Prinzip der Einstimmigkeit fassen dürfe, sei die EU heute wie ein ‚gefesselter Riese’, der nicht effizient und schnell genug auf die Veränderungen in der Welt reagieren kann. Der Vergleich Europas mit einem gefesselten Riesen taucht übrigens auch auf dem Titel seines neuen Buches auf, das wenige Stunden vorher in den Buchhandlungen erschienen war (‚Der gefesselte Riese – Europas letzte Chance’, Rowohlt Verlag).
Die wichtigen Entscheidungen sollten - so Parlamentspräsident Schulz - nach dem Prinzip der Subsidiarität gefällt werden und zwar dort, wo sie die Menschen direkt betreffen. „Je ortsnäher, umso besser“. Vor allem fehle in Brüssel eine ‚Kompetenzordnung’: „Was national gemacht werden kann, muss nicht kümmern“. Wo aber die ‚Kraft der Gemeinschaft’ gebraucht werde, sei die EU gefordert. Deshalb forderte Schulz, die Demokratie in Europa weiter zu entwicken, mit ihren Rechten und Pflichten, ihren Werten und Freiheiten, die ‚weltweit einzigartig’ seien.Nur ein demokratisches, transparentes und wertebasiertes Europa, das seine Bürger in die Gestaltung der Zukunft aktiv mit einbeziehe, könne vor der globalen Bedeutungslosigkeit retten.