"Eine Chance für mehr Toleranz"

"Das Engagement und die Prioritäten von Botschafter Ischinger, seine erstaunliche Karriere und ihre globalen Konsequenzen repräsentieren die höchsten Ideale unseres Volkes. Man hätte wohl kaum einen würdigeren Preisträger finden können als Botschafter Ischinger", sagte Frank Mecklenburg vom Leo Baeck Institut.

In seiner Dankesrede sprach Ischinger dem deutschen Auswärtigen Dienst und seinen Bemühungen Anerkennung dafür aus, die Erinnerung an die Shoa zu bewahren. Außerdem sagte er den Zuhörern, dass wir weltweit mehr für eine friedliche und tolerante Zukunft tun sollten.

Wolfgang Ischinger nahm in New York die Leo-Baeck-Medaille entgegen 

Ich möchte dem deutschen Auswärtigen Dienst, dem ich nun seit mehr als 33 Jahren angehöre, meine Anerkennung aussprechen. Ich bin in der Tat sehr stolz, ein Mitglied meiner Generation deutscher Diplomaten zu sein, einer Generation, die die Verbrechen bestätigt, die in der Nazizeit im Namen der deutschen Diplomatie begangen wurden, einer Generation, die Verantwortung für die Shoa übernimmt, diesen absolut unmenschlichen und brutalen Teil unserer Geschichte, einer Generation, die sich nachdrücklich dafür einsetzt, die Erinnerung an die Shoa zu bewahren. Denn wir verstehen, dass wir nur dann Verantwortung für die Zukunft übernehmen können, wenn wir uns zu unserer Verantwortung für die Vergangenheit bekennen. Ich nehme die Auszeichnung mit Stolz und Demut an, aber ich möchte sie auch im Namen meiner vielen Freunde und Kollegen im Auswärtigen Dienst annehmen - im Namen der wenigen, die heute Abend hier sind, und der vielen, die überall in der Welt ihren Dienst tun.

Als Leo Baeck 1912 als Rabbi nach Berlin ging, kam er in eine Stadt mit einer natürlichen Anlage  für Innovation und Risikoübernahme. Es waren aufgeregte Zeiten in der Stadt, Berlin war ebenso ein florierendes Geschäftszentrum wie Mittelpunkt wissenschaftlichen und kulturellen Fortschritts. Leo Baeck und seine Zeitgenossen profitierten von einem langen Kampf, der schließlich 1871 die Aufhebung des Ghettozwangs und umfassende und gleiche Rechte für die Juden in Deutschland gebracht hatte. Für die jüdische Gemeinschaft - und ganz Deutschland - setzte ein bis dahin nie da gewesener Aufschwung ein. Wie Fritz Stern sagte, "gelang den deutschen Juden innerhalb von nur drei Generationen ein beispielloser Aufstieg zu Erfolg, Ruhm und Reichtum". Es war eine Zeit aufregender neuer Entwicklungen, zu denen Juden herausragende Beiträge leisteten. Jeder kennt Albert Einstein, viele haben von Walter Rathenau gehört, dessen Andenken und Vision Kanzlerin Merkel kürzlich in einer bemerkenswerten Rede würdigte. Nicht so viele werden sich an den Namen Eugen Gutmann erinnern, einen der Gründungsväter der Dresdner Bank und einen der größten und innovativsten Banker seiner Generation. Mein eigenes Berliner Allianz Büro befindet sich im schönen Eugen-Gutmann-Haus am Pariser Platz, direkt gegenüber der neuen US-Botschaft.

In jener Zeit wurden elf Nobelpreise an jüdische Wissenschaftler verliehen, was dazu beitrug, Deutschlands Ansehen in den Naturwissenschaften zu fördern. Und das "Institut für Sozialforschung", um nur ein Beispiel zu nennen, tat das Gleiche auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften.

Nach dem Ersten Weltkrieg war die Weimarer Republik trotz politischer und wirtschaftlicher Krisen wieder eine Zeit pulsierenden akademischen, kulturellen und geschäftlichen Lebens, in dem jüdische Künstler, Autoren, Journalisten und Geschäftsführer eine maßgebliche Rolle spielten.

Und dann kam 1933 und damit für die jüdische Gemeinschaft und für ganz Deutschland der Abstieg in die Katastrophe. Rabbi Baeck weigerte sich zu gehen. Er kämpfte erbittert für die Rettung deutscher Juden, bis er 1943 nach Theresienstadt deportiert wurde.

Ruth Klüger, eine Mitgefangene, schrieb über Leo Baecks Rolle, und ich zitiere: "Ich war ganz bei der Sache, berührt… wie wir eng unter den nackten Balken saßen, ... von diesen so schlicht und eindringlich vorgetragenen Ideen. Er gab uns unser Erbe zurück, die Bibel im Geiste der Aufklärung, man konnte beides haben, den alten Mythos und die neue Wissenschaft."

Mit der Vertreibung und Ermordung der Juden hat Deutschland auch sich selbst, seine Identität und seine Werte, ja seine Seele zerstört. Es folgte eine menschliche und kulturelle Leere, und Wunden blieben zurück, die Berlin und Deutschland bis zum heutigen Tag schmerzen.

Bitte lassen Sie mich noch einmal Fritz Stern zitieren: "Aus der neuzeitlichen deutschen Geschichte können wir zwar Lehren sowohl über Katastrophen als auch Wiederaufbau ziehen, aber die wichtigste Lehre ist die von der Zerbrechlichkeit der Demokratie, von den verhängnisvollen Folgen bürgerlicher Passivität oder Gleichgültigkeit. Die deutsche Geschichte lehrt uns, dass Arglist und Einfalt ihre eigene Anziehungskraft haben, dass Gewalt beeindruckt und dass nichts im öffentlichen Raum unvermeidlich ist."

Aber Fritz prägte auch den großzügigen Begriff der "zweiten Chance", einer Chance, die Deutschland am Ende des mörderischen 20. Jahrhunderts erhielt, eine Chance zum Aufbau einer starken und dauerhaften Europäischen Union, und eine Chance zum Aufbau einer noch stärkeren und noch widerstandsfähigeren Demokratie zu Hause.

Wenn es tatsächlich eine "zweite Chance" gibt, machen wir heute das Beste daraus?

Meiner Ansicht nach ist unsere zweite Chance im Wesentlichen eine Chance, uns zu Hause und im Ausland wieder zu den Werten der Aufklärung zu verpflichten, über die Leo Baeck in Theresienstadt sprach.

Es ist die Aufklärung, der wir die Kernidee von der Würde des Menschen verdanken, der Freiheit und Gleichheit und anderer grundlegender Menschenrechte, ebenso wie den Begriff des Gleichgewichts in der Gewaltenteilung, des Rechtsstaats und der Toleranz sowie der Nichtdiskriminierung. Es ist das Vermächtnis der Aufklärung, das uns gemeinsame und universelle Werte gegeben hat. Es ist das Erbe der Aufklärung, das uns dazu anregt, zu Hause Rassismus und Antisemitismus zu bekämpfen und im Ausland religiöse und politische Toleranz und Nichtdiskriminierung zu fördern. Es ist die Idee der Aufklärung, auf der der Westen als politischer und moralischer Begriff aufbaut.

Seit "9/11" ist der Große Teich eher breiter als schmaler geworden. Es scheint eine Entfremdung stattgefunden zu haben. Gibt es den Westen noch? Vertreten wir immer noch dieselben Werte? Meine beiden ältesten Kinder Christoph und Caroline – sie sind heute Abend hier, und ich freue mich, dass sie diesen Abend mit der Leo Baeck Gemeinde verbringen können – meine eigenen Kinder haben während der Intervention im Irak und ihren Folgen, einschließlich Guantanamo und Abu Ghraib, unser Eintreten für dieselben westlichen Werte in Frage gestellt.

Wenn wir den Begriff des Westens verteidigen und wiederbeleben wollen, was wir nach meiner Überzeugung tun sollten, muss sich die transatlantische Gemeinschaft vorbehaltlos wieder zu den Werten der Aufklärung bekennen. Nur wenn wir zulassen, dass unser Handeln an höchsten moralischen Normen gemessen wird, nur wenn wir versuchen, wieder zu moralischer Überlegenheit zu finden, nur dann wird der Westen, werden die Vereinigten Staaten und Europa gemeinsam in der Lage sein, in der Welt wieder Achtung und Sympathie zu gewinnen. Meine Hoffnung ist die einer Erneuerung des Westens auf noch festerem Boden als transatlantische Gemeinschaft liberaler Demokratien, die für Selbstkorrektur und Reform offen sind.

Ich bin wirklich davon überzeugt, dass wir nach den jüngsten Präsidentschaftswahlen in diesem Land die Chance haben, genau das zu tun – ab dem 21. Januar 2009. Eine historische Chance - sie darf nicht versäumt werden!

Denn durch westlichen Zusammenhalt und Joint Leadership kann so viel erreicht werden - und sehr wenig wird erreicht, wenn wir keinen gemeinsamen Standpunkt gegenüber den großen Herausforderungen definieren können, die vor uns liegen: ob es sich um die Herausforderung iranischer Kernwaffenfähigkeit handelt, die Herausforderung der Herbeiführung einer arabisch-israelischen Friedensregelung oder die Herausforderung, eine nachhaltige globale Koalition gegen internationalen Terrorismus und Extremismus einschließlich Antisemitismus zu schmieden.

Aber unsere Aufgabe der Gestaltung einer friedlicheren und toleranteren Zukunft ist damit nicht erschöpft. Einen Aspekt möchte ich besonders erwähnen:

Es wurden viele Reden gehalten, und es wurde international ziemlich viel Geld zur Verfügung gestellt, um Hass, Rassismus und Intoleranz aus den Lehrbüchern der Hochschulen zu verbannen. Deutschland und Frankreich waren besonders erfolgreich mit einer Geschichtsbuchkommission, die eine wichtige Rolle beim Aufbau einer neuen Freundschaft zwischen unseren beiden Staaten gespielt hat.

Tun wir aber genug, weltweit? Meine Antwort ist klar: Wir tun nicht genug. Bis heute lernen Kindergartenkinder in den Balkanländern Lieder von Hass und Verbitterung, und noch schlimmer sieht es aus, wenn wir uns das Problem des Madrassas-Bildungssystems in Ländern wie Pakistan ansehen. Nicht an den Universitäten, sondern auf Kindergartenebene werden Hass und Diskriminierung gezüchtet und Intoleranz gelehrt. Viel mehr muss getan werden, in Europa, aber auch in vielen anderen Regionen, damit es in den Köpfen der nächsten Generationen keinen Platz für Rassismus mehr gibt.

Wir müssen uns nicht nur um die Lehrbücher der Universitäten, sondern auch um die Liederbücher der Kindergärten kümmern. Denn dort fängt alles an, und dort müssen wir mit der Bekämpfung von Rassismus beginnen.

Schließlich ein Wort zum allerhöchsten Gut der Diplomatie, aber auch der Beziehung zwischen einzelnen Menschen: Vertrauen. Um mit Franz Rosenzweig zu sprechen: "Vertrauen ist ein großes Wort. Es ist der Same, daraus Glaube, Hoffnung und Liebe wachsen, und die Frucht, die aus ihnen reift. Es ist das Allereinfachste und grade darum das Schwerste."

Ohne das Element des Vertrauens wird keine diplomatische Verhandlung zu nachhaltigem Erfolg führen. Ohne Vertrauen könnte es heute nicht wieder eine florierende und wachsende jüdische Gemeinschaft in Deutschland geben, und ohne Vertrauen könnte Deutschland nicht – wie es der frühere israelische Botschafter in Berlin sagte, "Israels zweitwichtigster Freund in der Welt sein."

Das Leo Baeck Institut hat in bewundernswerter Weise als wichtigster Vertrauensförderer zwischen Deutschen und Juden, Deutschen und Amerikanern sowie Deutschen und Israelis gewirkt. Ich bin tief geehrt durch das Vertrauen, das Sie heute sowohl mir persönlich als auch der deutschen Diplomatie gegenüber zum Ausdruck bringen, die meine Generation repräsentiert. Nichts kann einen Deutschen heute mit mehr Stolz erfüllen, als das Vertrauen, die Achtung und sogar Ehrung derer zu erhalten, deren Familien und Freunde das entsetzliche Grauen des Holocaust erlitten haben.

Danke für Ihr Vertrauen und Ihre Freundschaft. Es bedeutet mir - persönlich und beruflich - mehr, als Sie sich vielleicht vorstellen können.



Diese Aussagen stehen, wie immer, unter unserem Vorbehalt bei Zukunftsaussagen, der Ihnen hier zur Verfügung gestellt wird.
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