Was hält eine Gesellschaft zusammen?

Mehr scherzhaft fragte Sir Anthony Giddens zu Beginn der Veranstaltung im voll besetzten Wiener Burgtheater: Wie könne es sein, dass so viele Wiener zu einer Podiumsdiskussion über das Thema "Was hält eine Gesellschaft zusammen?" kämen, während man doch stattdessen an einem Sonntagmorgen die Sonne genießen und beim Stadtmarathon mitfiebern könne. Eine Antwort gab der Verlauf der Veranstaltung: Ein hochkarätiges Podium diskutierte das Thema "gesellschaftlicher Kitt" lebhaft und mit viel Zuspruch aus dem Publikum.

An der Abschlussdiskussion der Wiener Serie der Veranstaltungsreihe "Reden über Europa" nahmen neben dem ehemaligen Direktor der renommierten London School of Economics, dem Soziologen Sir Anthony Giddens, auch der österreichische Bundeskanzler Alfred Gusenbauer, der ehemalige italienische Innenminister Giuliano Amato und Jennifer L. Hochschild, Professorin für "African and African American Studies" in Harvard, teil.

Der Leiter der Allianz Kulturstiftung, Michael M. Thoss, mit den Diskussionsteilnehmern Anthony Giddens, Jennifer L. Hochschild, Moderator Krysztof Michalski, Alfred Gusenbauer und Giuliano Amato (von links); Fotos: Andreas Altmann

Moderator Krysztof Michalski, Rektor des Instituts für die Wissenschaft vom Menschen, leitete die Debatte mit der Frage ein: "Wie können wir in einer modernen Gesellschaft mit hohem Wettbewerbsdruck und Menschen, die verschiedene Identitäten haben, Solidarität herstellen?"

Giuliano Amato beschrieb zwei fundamentale Herausforderungen für die heutigen Gesellschaften; einerseits mehr Wettbewerbsdruck und damit einhergehende Individualisierungstendenzen, andererseits die Zunahme von Migration in Europa. Beides weiche traditionelle Bindungen in den Gesellschaften auf. "Nur wenn wir es möglich machen, dass der Einzelne seine gesellschaftlichen Rechte auch wirklich ausüben kann, können wir den Zusammenhalt stärken", sagte er.

"Neben Rechten müssen jedoch auch Pflichten wahrgenommen werden, damit ein Gemeinwesen funktionieren kann", ergänzte demgegenüber Giddens. Ausdrücklich forderte er auch, dass Menschen mit Migrationshintergrund diese Verpflichtung ernst nehmen. Das sei Voraussetzung für eine kosmopolitische Gesellschaft, die die richtige Antwort auf wirtschaftliche Globalisierung und entgrenzte Kommunikation sei. Er zitierte den amerikanischen Soziologen Daniel Bell mit dem Satz: "Der Nationalstaat ist für die großen Dinge zu klein und für die kleinen Dinge zu groß."

Die Forderung nach gleichen Rechten und Pflichten unterstützte Bundeskanzler Gusenbauer ausdrücklich und führte aus: "Ein gut gemanagtes Gemeinwesen funktioniert auf drei Ebenen. Dazu gehört der Rechtsstaat, soziale und ökonomische Kohäsion und kulturelle Bindungen." Bei der Integration von Migrantinnen und Migranten sah er den Spracherwerb an erster Stelle. Nur so könne soziale, politische und ökonomische Teilhabe wahrgenommen und Ghettos vermieden werden. Es sei an der Zeit, sich von einem naiven Multikulturalismus zu verabschieden.

Die "Reden über Europa" fanden im ausverkauften Wiener Burgtheater statt

Dieses Stichwort nahm Jennifer Hochschild auf und verglich die amerikanischen mit den französischen Integrationserfahrungen. In den USA wurde über weite Strecken eine Politik der "affirmative action" (positiven Diskriminierung) betrieben. Das heißt beispielsweise, dass Afro-Amerikanern Vorteile und spezielle Förderungen beim Universitätszugang eingeräumt wurden. Zugleich habe dieser Ansatz auch Grenzen aufgezeigt, da mit der Zeit die Akzeptanz für solche Maßnahmen innerhalb der Gesellschaft gesunken sei. Ein Erfolg sei in jedem Fall, dass sich eine afro-amerikanische Mittelklasse gebildet habe. Gute Ergebnisse habe man auch damit erzielt, dass Wahlkreise neu zugeschnitten wurden, damit ethnische Minderheiten ihre Volksvertreter wählen könnten.

Auf der anderen Seite habe die französische Politik der Gleichbehandlung, die soweit gehe, dass der Staat nicht nach der ethnischen Zugehörigkeit fragen dürfe, Probleme zu lange nicht wahrnehmen wollen. Eine Lösung sah Professor Hochschild darin, einen Stakeholder-Ansatz zu betreiben: "Wir müssen gegenüber den relevanten Gruppen mehr Sensibilität schaffen. Gemeinsame Grundüberzeugungen sind die Basis. Aber wir müssen auch anerkennen, dass es verschiedene Wahrnehmungen davon gibt, was Diskriminierung ist. Beides sind Voraussetzungen für zielgruppenspezifische Integrationspolitiken."

Einigkeit herrschte dabei, wie wichtig der Wohlfahrtsstaat für die Solidarität in einer Gesellschaft sei. Bundeskanzler Gusenbauer befürwortete das Konzept eines aktivierenden Wohlfahrtsstaates, der vordringlich seine Bürgerinnen und Bürger befähigt, Eigenverantwortung zu übernehmen, statt Transferzahlungen zu leisten. Und insbesondere käme auch der Europäischen Union in einer globalisierten Welt die Rolle zu, das europäische Wohlfahrtsstaatsmodell zu schützen.

Unterschiedliche Meinungen gab es bei der aktuellen Bedeutung der Religion für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Während Giddens und Bundeskanzler Gusenbauer eher eine nachlassende Bindewirkung sahen, widersprach Amato deutlich: "Es gibt säkulare Prinzipien, die den Zusammenhalt fördern können. Aber es gibt kein säkulares Prinzip, das uns sagt, 'Liebe deinen Nächsten'."

Michael M. Thoss, Leiter der Allianz Kulturstiftung, war nach der Veranstaltung hoch zufrieden: "Der große Publikumserfolg der Vortragsreihe 'Reden über Europa' zeigt, dass es ein großes Bedürfnis gibt, europäische Themen öffentlich zu diskutieren. Mit unserer Arbeit als Allianz Kulturstiftung tragen wir dem Rechnung und leisten einen Beitrag für eine aktive europäische Bürgergesellschaft." Nach vier Podiumsdiskussionen der "Reden über Europa" in Wien und insgesamt elf in München wird die Allianz Kulturstiftung die erfolgreiche Diskussionsreihe ab Frühjahr 2009 in der Berliner Staatsoper fortführen. Für Herbst 2008 sind auch einzelne Veranstaltungen in London, Stockholm und Venedig geplant.