Gusenbauer: "Wir müssen das soziale Europa stärken"

Allianz.com News: Welche Schritte halten Sie im Moment für die wichtigsten zur Beschleunigung des europäischen Integrationsprozesses?

Gusenbauer: Der erfolgreiche Abschluss der Ratifizierung des Lissabonner Vertrags ist ein sehr wichtiger Schritt für den europäischen Integrationsprozess. Österreich und eine großen Anzahl anderer Mitgliedsstaaten haben das bereits getan. Interessant wird es, wie die Ratifikation in Irland verläuft, wo auch ein Referendum ansteht.

Aktuell halte ich es für keine kluge Idee, dass jetzt schon von einigen Regierungen über die Besetzung von Posten wie dem Präsidenten des Rates der Europäischen Union und dem Hohen Beauftragten für die Außenpolitik diskutiert wird. Ich hätte es für vernünftiger gehalten, wenn man das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament abgewartet hätte.

Nach außen stehen wir vor vielfältigen globalen Herausforderungen, bei denen Europa handeln muss. Ich nenne nur als Beispiel die aktuelle Verteuerung der Nahrungsmittel weltweit. Hier macht es Sinn, dass wir uns als Europäer gemeinsam einbringen, um eine Lösung zu erzielen.

Nach innen müssen wir das soziale Europa stärken. Mit den Reformen der letzten Jahre haben wir in Europa gute Resultate erzielt. In den letzten zehn Jahren sind fast 19 Millionen neue Jobs entstanden, davon sechs Millionen in den letzten drei Jahren. Die Finanzmarktkrise bedroht aber den Konjunkturaufschwung. Auch deswegen brauchen wir in der Union mehr soziale Grundrechte.

Das Wiener Burgtheater war für "Reden über Europa" ausverkauft; Fotos: Andreas Altmann

Bundeskanzler Alfred Gusenbauer auf dem Podium

Gusenbauer: Österreich liegt zwischen dem alten und dem neuen Europa. Wir verstehen uns als Scharnier. Als Österreicher können wir in beide Richtungen zur Verständigung beitragen. Wir tragen die europäische Perspektive in den Balkan und sind auch Sprachrohr für deren Belange in Europa.

Gusenbauer: Große Unternehmen können einen wichtigen Beitrag zur Schaffung einer europäischen Öffentlichkeit leisten - national wie international. Die Veranstaltung hier im Wiener Burgtheater [Anm. der Red.: Gemeint sind die "Reden über Europa" auf Initiative der Allianz Kulturstiftung] ist ein sehr gutes Beispiel für einen europäischen Ansatz, der auch in andere Länder getragen werden sollte.

Gusenbauer: Europa befindet sich heute im Umbruch und positioniert sich neu. Europa zeichnet sich durch ein spezifisches europäisches Sozial- und Gesellschaftsmodell aus. Dieser Weg des Miteinander, der sozialen Gerechtigkeit und des Dialoges wird sich in Europa durchsetzen und auch zu einem der wichtigsten Exportartikel unseres Kontinents werden.

Die neue Grundrechts-Charta hat jetzt schon das Antlitz Europas verändert. In ihr sind soziale Grundrechte verankert, die etwa die österreichische Verfassung nicht kennt. Europa wird dadurch sozial gerechter werden. Vor allem vom Gelingen der Sozialpolitik und von den greifbaren Erfolgen im Bereich des Klimaschutzes wird es abhängen, wie schnell sich zusätzlich zur bereits existierenden nationalen und lokalen Identität eine darüberliegende, europäische Identität ausbilden und vertiefen wird.

Der Klimaschutz ist ein Thema, das alle Menschen angeht. Diese globale Herausforderung kann nur von der EU gemeinsam bewältigt werden. Klug gestaltete Klimapolitik ist aber auch eine Chance für mehr wirtschaftliches Wachstum und leistet einen bedeutenden Beitrag zur Stärkung der europäischen Wirtschaft. Neue Umwelttechnologien und Investitionen steigern unser Wachstumspotential und schaffen neue Arbeitsplätze, wodurch die Vollbeschäftigung in wenigen Jahren erreicht sein könnte.