„Fast schon eine Kehrtwende“

Auf welche außenpolitischen Herausforderungen wird sich Obama während seiner zweiten Amtszeit konzentrieren?

David Ignatius: Die dringendste Herausforderung ist der Iran. Da sich der Präsident verpflichtet hat, Iran daran zu hindern Nuklearwaffen zu entwickeln, muss er prüfen, ob sich das Nuklearthema bis zur Mitte des Sommers auf diplomatischem Wege lösen lässt. Geschieht dies nicht, wird der Ruf nach einem israelischen Militärschlag - und damit der Druck auf die Vereinigten Staaten, sich an einem Präventivschlag zu beteiligen - wieder zunehmen. Die zweite, dringende Herausforderung ist Syrien. Auch hier muss die amerikanische Regierung die Diplomatie sprechen lassen - über Russland. Ansonsten wird sich der militärische Konflikt zweifelsohne weiter verstärken.

Wolfgang Ischinger: Ich stimme David bei seiner Analyse absolut zu, aber ich möchte noch eine zusätzliche Priorität aus europäischer Sicht erwähnen, nämlich die Bemühungen, die Friedensverhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern wieder in Gang zu bringen. Der Friedensprozess darf nicht aufgegeben werden. Eine weitere wichtige Herausforderung ist die Verbesserung von Amerikas Beziehung zu Russland. Kommt es zu keinem Treffen zwischen Obama und Putin, wird sich beispielsweise die Syrien-Krise nicht lösen lassen.

 

Asien scheint für die Vereinigten Staaten immer wichtiger zu werden. Aber was ist mit Europa?

Ignatius: Aus meiner Sicht war die wichtigste Neuigkeit bei der Münchner Sicherheitskonferenz Vizepräsident Bidens deutliche Bestätigung der transatlantischen Allianz und der Partnerschaft mit Europa. Das war fast schon eine Kehrtwende. Und er meinte es auch wirklich, als er Europa als den "Grundpfeiler" der amerikanischen Außenpolitik beschrieb.

Ischinger: Dem kann ich nur zustimmen. Wenn es uns gelingt, Verhandlungen über ein umfassendes, transatlantisches Handelsabkommen anzustoßen, ist das sowohl für die Vereinigten Staaten als auch für Europa von großem Vorteil.

David Ignatius, Kommentator der „Washington Post“  (Quelle: Aude, CC-BY-SA 3.0)
David Ignatius, Kommentator der „Washington Post“  (Quelle: Aude, CC-BY-SA 3.0)

Was sind die größten Hürden für ein Freihandelsabkommen zwischen den Vereinigten Staaten und Europa und wie können sie überwunden werden?

Ignatius: In Amerika fürchtet man sich vor der europäischen Überregulierung der Finanzmärkte, insbesondere den Versuchen, die Steuersätze zu standardisieren und - aus US-amerikanischer Sicht widersinnige - Limits für bestimmte Finanzprodukte zu setzen. Ich glaube, Amerikaner wie Europäer müssen akzeptieren, dass Handels- und Investitionsliberalisierung auch in der Realität LIBERALE Ideen sind - liberal in dem Sinn, dass sie sich bei der Schaffung von Arbeitsplätzen und Wohlstand auf Marktkräfte und den Wettbewerbsvorteil verlassen. Ein positiver Aspekt dieser Liberalisierung ist, dass Europa durch die EZB eine wirklich moderne und konsolidierte Zentralbank besitzen wird. Und die deutsche Regierung stimmt dieser Entwicklung trotz der Sorgen der Bundesbank stillschweigend zu.

Ischinger: Auch hierin stimme ich mit David vollends überein. Zu den vielen Hürden, die einem Freihandelsraum im Wege stehen, gehören auch bestimmte landwirtschaftliche Produkte, wie Gen-veränderte Organismen. Falls sich herausstellt, dass sich diese schwierigen Themen einfach nicht lösen lassen, sollten sie aus dem Handelsabkommen ausgeklammert werden, denn das Abkommen an sich ist für uns alle enorm wichtig!

 

Die Erschließung neuer heimischer Energieressourcen durch Fracking könnte die Außenpolitik der Vereinigten Staaten verändern - wie schnell und in welchem Umfang?

Ignatius: Bis dato ist die Revolution durch Schieferöl und -gas noch eher Wunschdenken als Realität. Es gibt noch etliche Hürden, aufsichtsrechtlicher und anderer Art, die überwunden werden müssen. Aber die Märkte werden auch davon getrieben, wie ein Land wahrgenommen wird - und der Gedanke, dass Amerika sich in den nächsten zehn Jahren wieder zu einer kostengünstigen Energiequelle und einem Industriezentrum entwickeln wird, verändert bereits jetzt das Marktverhalten. Gewinnt Amerika seine wirtschaftliche Stärke zurück, nimmt auch seine außenpolitische Macht wieder zu. Alle lieben Sieger, niemand mag Verlierer.

Ischinger: Die Aussicht, dass die Vereinigten Staaten von Gas und Öl immer unabhängiger werden könnten, führt uns vor Augen, dass der Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit zu den wichtigsten Herausforderungen für Europa gehört. Wenn Energiepreise in den Vereinigten Staaten künftig um vieles billiger sind als in Europa, wie können wir dann hier in Europa unsere Arbeitsplätze erhalten und sogar neue schaffen? Deshalb braucht ganz Europa dringend eine einheitliche europäische Energiepolitik.

Wolfgang Ischinger, Generalbevollmächtigter für Regierungsbeziehungen der Allianz SE und Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz.
Wolfgang Ischinger, Generalbevollmächtigter für Regierungsbeziehungen der Allianz SE und Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz

Diese Aussagen stehen, wie immer, unter unserem Vorbehalt bei Zukunftsaussagen

Nicolai Tewes
Allianz SE
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