Hakan Danielson: Wie in vielen anderen Ländern wird auch in Russland die Kfz-Versicherung am stärksten nachgefragt. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Kfz-Haftpflicht, die für alle Fahrer gesetzlich verpflichtend ist. Für Fahrer neuerer Autos, die über ausreichend Geld verfügen, ist auch eine Kasko-Versicherung von Interesse. Abgesehen davon können wir keine große Nachfrage für die Sachversicherung wie in anderen europäischen Ländern feststellen.
Warum?
Danielson: Meiner Erfahrung nach gibt es einen klaren Unterschied zwischen dem, was man "haben muss", und dem, was man "haben sollte". Haben muss man Versicherungen, die gesetzlich vorgeschrieben sind, oder die eine Bank als Sicherheiten für eine Kredit verlangt. Produkte wie etwa Unfall- oder Lebensversicherungen, die man haben sollte, sind im Vergleich zu Westeuropa noch relativ wenig verbreitet, aber die Nachfrage nach diesen wird vom wachsenden Wohlstand angekurbelt werden.
Wo sonst gibt es eine starke Nachfrage?
Danielson: Die größten Umsatzerlöse erzielen Versicherer in Russland durch die Ölindustrie, die sehr wichtig für das Land ist. Hier wird vor allem Deckung für Raffinerien, den Öltransport und andere ähnliche Unternehmungen benötigt. Betrachten wir jedoch die Anzahl der Policen, dann verzeichnen die Kfz- und die Krankenversicherung die höchste Anzahl.
Wie unterscheidet sich das russische Versicherungssystem von Systemen in anderen Ländern?
Danielson: Die Russen sind sehr auf ihre Einzigartigkeit bedacht und hören es gar nicht gern, wenn man keinen großen Unterschied feststellen kann. Aber so ist es wirklich. Kein anderes Geschäftsfeld ist so stark mit der Gesellschaft verknüpft wie Versicherungen. Die Krankenversicherung wird durch die Entwicklung im Gesundheitssystem getrieben, die Kfz-Versicherung durch die wachsende Zahl an Autos. Deshalb folgt auch der russische Versicherungsmarkt europäischen Mustern. Hat erst einmal ein russischer Durchschnittsbürger, der außerhalb Moskaus lebt, denselben Lebensstandard erreicht wie ein Westeuropäer, dann wird sich der russische Versicherungsmarkt vom deutschen oder schweizerischen kaum noch unterscheiden.
Was sind die wichtigsten Vor- und Nachteile des russischen Versicherungssystems?
Danielson: Der Versicherungsmarkt in Russland ist bei weitem nicht so stabil wie in Westeuropa. Einerseits gibt es immer noch viele kleinere Versicherer, die nicht ordnungsgemäß gemanagt werden und bei denen das Risiko der Zahlungsunfähigkeit besteht. Andererseits gibt es auch viel Positives zu berichten.
Als da wäre?
Danielson: Meiner Ansicht nach ist beispielsweise das Krankenversicherungssystem in Russland äußerst effizient, denn es besteht aus unterschiedlichen Bestandteilen. Der erste ist verpflichtend und wird vom Staat garantiert. Der zweite besteht aus einer Krankenversicherung, die die meisten Arbeitgeber als Sozialleistung für ihre Mitarbeiter anbieten. Dank dieser Versicherung können sie sich im Krankheitsfall bessere Kliniken leisten. Außerdem können Privatkunden auch zusätzliche Krankenversicherungspolicen abschließen.
Man sagt, dass jede Nation über eine ihre eigene Risikotoleranz verfügt. So lautet ein weitverbreitetes Vorurteil, dass Westeuropäer stets alle Einzelheiten berücksichtigen um potenzielle Risiken und Probleme zu vermeiden, wogegen Russen weitaus spontaner handeln. Glauben Sie, dass das zutrifft?
Danielson: Ich finde schon, dass beispielsweise die Deutschen absolut sichergehen wollen, dass alle Risiken weit in die Zukunft vorausgeplant und unter Kontrolle sind. Die Russen konzentrieren sich dagegen mehr auf das Hier und Jetzt. Wenn Sie in Deutschland von "langfristig" sprechen, dann denken die meisten an einen Zeitraum von etwa fünf Jahren. In Russland würde man darunter höchstens fünf Wochen verstehen.
Ich bin mir auch nicht ganz sicher, ob das wirklich mit Risikotoleranz zu tun hat, oder zumindest nicht nur, weil sich die Russen genauso viele Sorgen um ihre Häuser oder Autos wie die Westeuropäer machen. Aber es geht hier vor allem auch um langfristiges Vertrauen in die Zukunft. In den letzten Jahren haben die Russen weit mehr Veränderungen durchlebt als andere Nationen. Deshalb ist es für sie wahrscheinlich schwieriger daran zu glauben, dass man tatsächlich so gut planen kann.
Und wie ist es um die russischen Unternehmer bestellt? Sind diese dem Risiko gegenüber auch toleranter eingestellt als die Westeuropäer?
Danielson: Russland ist zweifelsohne von starkem Unternehmergeist geprägt. So gehen Russen und Deutsche beispielsweise mit ihren Aufgaben völlig unterschiedlich um. Wenn russische Kollegen einen Auftrag bekommen, fangen sie sofort an. Deutsche Kollegen stellen dagegen erst einmal einen Plan auf. Es kommen zwar beide zum Ziel, aber auf gänzlich andere Art und Weise.
Im Russland probieren Unternehmer etwas Neues aus, um herauszufinden, ob es funktioniert. Wenn nicht, dann hören sie damit auf und probieren etwas anderes. Diese Vorgehensweise ist typisch für die russische Kultur. Deshalb glaube ich auch, dass russische Manager im Großen und Ganzen für die Herausforderungen einer schnelllebigen, globalen Welt besser aufgestellt sind als viele im sonstigen Europa.