Wenn man darüber nachdenkt, wird schnell deutlich, dass wir meist nur einer sehr begrenzten Gruppe von Personen vertrauen. Und die Zahl derer, denen wir uneingeschränktes Vertrauen schenken, ist noch weit geringer. Umso verwunderlicher ist, dass wir bei einer Vielzahl alltäglicher Interaktionen von Fremden abhängen, denen wir vertrauen müssen.
Tatsächlich ist Vertrauen in so vielen Bereichen unseres täglichen Lebens eine Grundvoraussetzung, dass wir uns dessen gar nicht mehr bewusst sind. So spielt Vertrauen nicht nur bei dem, was wir kaufen, eine Rolle, sondern auch dabei, womit wir bezahlen. Es betrifft Strom- und Wasserversorgung, reibungslosen Verkehr und die Märkte, aber auch die Sicherheitssysteme unserer Häuser und Städte. All diese Bereichen funktionieren, weil wir davon ausgehen, dass hunderte oder gar tausende Menschen, die an diesen Transaktionen ebenfalls beteiligt sind - und sei es nur am Rande -, nicht gegen allgemein geltende Spielregeln verstoßen.
Tim Harford, der für die Financial Times die Kolumne "Undercover Economist" schrieb, begann einen seiner Artikel mit der Vision einer Welt ohne Vertrauen: Als ein Mann im Tante-Emma-Laden um die Ecke eine Flasche Milch kaufen will, ist zunächst der Kühlschrank verschlossen.
Als er den Eigentümer des Ladens endlich überredet hat, die Milch herauszuholen, kam es zum Streit. Sollte der Ladeninhaber zuerst die Milch herausrücken oder der Kunde zuerst das Geld? Schließlich einigten sich die beiden auf ein kompliziertes, gleichzeitiges Tauschverfahren.
Doch selbst diese Art der Transaktion ist vom "Krieg aller gegen alle", den Thomas Hobbes beschreibt, weit entfernt. Zumindest bestand weder der Ladeninhaber auf Bezahlung in Gold- oder Silbermünzen noch beharrte der Kunde darauf, die Qualität der Milch erst einmal von einem öffentlich bestellten Notar testen und zertifizieren zu lassen - und keiner von beiden griff zur Waffe.
Keine Tierart - nicht einmal unsere prähistorischen Vorfahren – ist bereit, mit Artgenossen außerhalb der Großfamilie zu kooperieren, berichten Naturwissenschaftler. Paul Seabright, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Toulouse und Autor des Buches The Company of Strangers vertritt die Ansicht, dass Misstrauen und Gewalt tief in unserem Erbgut verankert sind. Abstraktes, symbolisches Denken habe jedoch dazu geführt, dass wir uns gegenseitig "ehrenhalber" als Verwandte akzeptieren.
"Irgendwann in den vergangenen 10.000 Jahren begannen wir auch mit Fremden zu kooperieren. So gelang es uns, unser tief verwurzeltes, instinktives Misstrauen und unsere Gewaltbereitschaft gegenüber anderen zu überwinden", erklärt Seabright.
Unbekannten Vertrauen zu schenken ist in freier Natur zwar eher riskant. Doch als sich die Menschheit erst einmal zu diesem Schritt durchgerungen hatte, war es Artgenossen plötzlich möglich, komplexe Aufgaben gemeinsam zu erledigen. Die moderne Arbeitsteilung war geboren. Die Fähigkeit jemand Fremden zu vertrauen ist, wie auch die Sprache, nur uns Menschen zu eigen. Letzten Endes, so Seabright, beruht die gesamte moderne Zivilisation auf dieser Art von Zusammenarbeit und Vertrauen.