Allianz Autotag: Die Schwachen besser schützen
Eine große Kreuzung an einem Montagmorgen in der Innenstadt. Ein Pulk aus Fahrrädern wartet am rechten Fahrbahnrand darauf, dass die Ampel auf Grün schaltet. Links daneben ein mächtiger Lkw, der nach rechts abbiegen will. Auf dem Bürgersteig wuseln Fußgänger:innen und E-Scooter durcheinander. Jede Person hat ein anderes Ziel und möchte so schnell wie möglich ankommen. Die Ampel wechselt die Farbe. Alle setzen sich gleichzeitig in Bewegung.
Dieser Moment ist eine der risikoreichsten Situationen für die sogenannten vulnerablen Verkehrsgruppen, also diejenigen, die sich ohne Schutz durch Karosserie, Gurt und Airbag beispielsweise zu Fuß, mit dem Fahrrad, dem Motorrad oder dem E-Scooter durch den Straßenverkehr bewegen. Von den 2,5 Millionen Unfällen im Jahr 2023 entstand laut Statistischem Bundesamt der Großteil derer, die mit Personenschäden verbunden waren, nicht auf Autobahnen oder Landstraßen, sondern innerorts. Und vor allem betroffen waren eben jene schwächeren Verkehrsteilnehmenden, wie Christian Sahr, Geschäftsführer des Allianz Zentrums für Technik (AZT), erklärt: »Im Jahr 2022 waren beispielsweise 80 Prozent der in deutschen Städten tödlich verunglückten Personen zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem Motorrad unterwegs.« Die Lage hat sich in der zurückliegenden Dekade deutlich zugespitzt. So hat sich 2023 die Zahl der getöteten Fahrradfahrer:innen im Vergleich zum Jahr 2010 um 17 Prozent erhöht. Die Sicherheitslage von Pkw-Nutzer:innen hat sich hingegen im gleichen Zeitraum deutlich verbessert: Hier zeigt der Jahresvergleich, dass die Zahl der verunglückten Personen um 35 Prozent zurückgegangen ist. Diese Zahlen spiegeln die Tatsache wider, dass in der Vergangenheit viel zum Schutz von Pkw-Insassen getan wurde.
Die Einführung von Gurtpflicht, Airbags, ESP, aktiven Fahrassistenzsystemen und verbesserten Karosseriestrukturen konnte in den letzten Jahrzehnten die Gesamtzahl der Getöteten im Straßenverkehr senken. »Aktuell sehen wir aber, dass diese Werte bei knapp 3000 Verkehrstoten pro Jahr stagnieren. Um die Zahl der Toten weiterhin zu verringern, muss man den Fokus nun neben dem Pkw zusätzlich stärker auf die vulnerablen Gruppen lenken«, erläutert der Geschäftsführer des AZT. Bei genauer Betrachtung fällt auf: Unfallbrennpunkte in der Innenstadt treten regelmäßig dort auf, wo ungeschützte Verkehrsteilnehmer:innen auf Kleintransporter oder Lkw stoßen. Vereinfacht gesagt: Es geht um den Konflikt zwischen Klein und Groß.
Im Jahr 2022 waren Lkw bei 22 Prozent der Verkehrsunfälle mit Getöteten involviert, obwohl sie bei den zugelassenen Fahrzeugen nur einen Anteil von rund 6 Prozent ausmachen. Auch Kleintransporter sind zunehmend an tödlichen Unfällen beteiligt. Einer der Gründe dafür ist vermutlich die Verlagerung in Richtung Onlinehandel, die zu mehr Lieferfahrzeugen in Wohnbezirken und damit vermehrt zu risikoreichen Situationen vor Ort führt.
Laut den Analysen des AZT gehört – neben der anfangs beschriebenen Szene an der Kreuzung – die Situation bei einmündenden Fahrstreifen zu den gefährlichsten Verkehrskonstellationen bei Lkw. Die Auswertungen zeigen, dass vor allem Passant:innen und Radler:innen gefährdet sind, wenn Lkw nach rechts abbiegen. Bei nach links abbiegenden Lkw trifft es besonders häufig Motorradfahrer:innen.
Bei Kleintransportern lassen sich laut Sahr andere typische Unfallsituationen beobachten: »Hier sind vor allem Ein- und Ausfahrten risikoreich – sowie der Längsverkehr, also wenn Fahrzeuge in die gleiche oder die entgegengesetzte Richtung fahren. Allerdings tragen Lkw- und Lieferwagenfahrer:innen nicht allein die Verantwortung für solche Unfälle, denn häufig befinden sich Rad- und Motorradfahrer:innen, aber auch Fußgänger:innen aus Leichtsinn oder Unwissenheit im toten Winkel.«
Ein weiterer Unfalltreiber – vor allem bei sogenannten Kurier-Express-Paketdiensten – ist die Ablenkung der Fahrer:innen, etwa wenn diese die nächste Empfängeradresse suchen. Da sie im Unterschied zum klassischen Postauto nicht von Haus zu Haus fahren, müssen sie auf ihrem mobilen Gerät nach dem nächsten Stopp Ausschau halten. »Häufig ist es bei Unfällen im Längsverkehr dann so, dass sie beim Fahren auf ihr Gerät blicken, und dann ist der Crash schnell passiert«, erklärt Experte Christian Sahr.
Auch der Gesetzgeber ist auf das wachsende Problem zwischen Groß und Klein aufmerksam geworden: In der Europäischen Union gibt es seit zwei Jahren die »General Safety Regulation«, die Schritt für Schritt Sicherheitsstandards für Lkw etabliert. Seit Juli 2024 müssen zum Beispiel zusätzliche Fahrassistenzsysteme in neu zugelassenen Fahrzeugen integriert sein – wie zum Beispiel Anfahr-, Totwinkel- und Rückfahr-Informationssysteme. Diese sollen Kollisionen gerade auch in Situationen mit vulnerablen Verkehrsteilnehmenden verhindern. Ziel der EU ist dabei die »Vision Zero«, also der ambitionierte Plan, die Zahl der Verkehrstoten bis zum Jahr 2050 auf Null zu reduzieren.
Um dieses Ideal zu erreichen, hält Verkehrsexperte Christian Sahr weitere Maßnahmen für notwendig: »Die Sicherheitsstandards von Lkw und Kleintransportern müssen über die gesetzlichen Vorgaben hinausgehen, denn neben der Existenz der Fahrassistenzsysteme ist auch ihre Qualität entscheidend.« Wie Sahr erläutert, sei zum Beispiel ein Notbremsassistent ein äußerst wichtiges System, aber nicht wirksam genug, wenn es die Geschwindigkeit nur um 20 Stundenkilometer reduziere. »Dann fährt man mit 60 statt mit 80 km/h auf den Stau auf, was immer noch fatale Folgen haben kann. Einzelne Assistenzsysteme sind in der Lage, über die gesetzlich geforderte Reduktion hinaus den Unfall komplett zu vermeiden. Diese Systeme sind also erheblich wirksamer. Deswegen ist ein Bewertungssystem für die verbauten Assistenten unerlässlich, wie es beispielsweise von Euro NCAP in diesem Jahr eingeführt wird.«
Euro NCAP, kurz für European New Car Assessment Programme, also Europäisches Neuwagen-Bewertungs-Programm, ist ein unabhängiger Verbraucherschutzverband, der unter anderem die Sicherheit von Fahrassistenzsystemen bewertet. Auf der Basis von verschiedenen Crashtest-Szenarien entstehen Sicherheitsratings von bestimmten Fahrzeugtypen. Mehrere europäische Städte folgen den Bewertungen von Euro NCAP und haben eigene Anforderungen an Kleintransporter und Lkw in ihrem Stadtbereich gestellt. Christian Sahr hält es allerdings für problematisch, dass diese Maßnahmen bisher nicht EU-weit harmonisiert erfolgen, sondern jede Stadt ihre eigenen Regeln aufstellt: »Wenn Automobilhersteller ihre Fahrzeugtypen an jede Stadt einzeln anpassen müssen, entstehen hohe Kosten. Dadurch wird Mobilität unnötig verteuert.«
Die Investition in leistungsfähige Fahrassistenzsysteme hat neben dem positiven Effekt auf die Verkehrssicherheit auch Vorteile für die Flottenbetreiber, denn nur sichere Fahrzeuge können profitabel sein. So erklärt Sahr, dass die Sicherheitsbewertungen der Fahrzeuge sich auch auf Versicherungsprämien auswirken könnten. Denn durch umfangreiche Ratings der Sicherheitssysteme in Lkw und Kleintransportern könnten Flottenbetreiber bereits beim Kauf bewerten, um wieviel sicherer bestimmte Fahrzeugmodelle im Vergleich zu anderen sind, und dann durch eine entsprechende Auswahl etwa Unfallfrequenzen und Ausfallzeiten senken. Das steigert wiederum die Profitabilität und senkt die laufenden Kosten – inklusive der Versicherung. Alles überzeugende Argumente, um wirksamere Sicherheitssysteme für die Flotte auszuwählen.
In diesem Punkt sieht der Geschäftsführer des AZT auch die Versicherer in der Pflicht. Diese können durch entsprechende Beratung und Anreize in der Tarifgestaltung Sicherheitsstandards erhöhen. »Als Versicherer haben wir einen riesigen Hebel, wenn wir Flottenbetreiber über die Sicherheit und Profitabilität ihrer Fahrzeuge aufklären. Wir beraten aber auch die Fahrzeughersteller hinsichtlich der Sicherheitsausstattung, basierend auf den Forschungsdaten aus dem AZT. Wenn wir im AZT über die Veränderung eines Produkts reden, dann sprechen wir nicht nur von der Veränderung des Versicherungsprodukts, sondern vom versicherten Produkt, also dem Pkw, Lkw oder Van. Wir wollen das Fahrzeug verändern, bevor es auf die Straße kommt, damit der Sicherheitsstandard von Anfang an höher ist. Dafür haben wir viele Beratungsprojekte mit diversen Automobilherstellern.«
Interview mit Dr. Christian Sahr
Veränderung vorantreiben: Allianz Zentrum für Technik legt die Messlatte für Sicherheit höher
Durch regelmäßige Crashtests können wir die Sicherheit in verschiedenen Bereichen nachweislich erhöhen. Zum Beispiel die korrekte Typklassifizierung bei der Beurteilung der Reparaturfähigkeit von Fahrzeugen: „Das ist inzwischen sogar ein internationaler Standard, den die OEMs weltweit nutzen“, sagt Dr. Christian Sahr. Mit Dummies hat das AZT in den letzten fünf Jahrzehnten rund 7.000 Crashtests durchgeführt. Wir konnten die Bedeutung von Sicherheitsgurten nachweisen, einen Standard für eine Wegfahrsperre schaffen, die vor Diebstahl schützt, und, wie bereits erwähnt, Fahrzeuge nach Typen klassifizieren, um ihre individuelle Reparaturfähigkeit zu bewerten. Kurz gesagt: die Verkehrssicherheit erhöhen.
Unsere Fähigkeit, auf Unfalldaten zuzugreifen und diese genau auszuwerten, ist der Schlüssel zu dem, was wir tun. Mit unserer Crashbahn und unserem Schulungsraum haben wir alles, was wir brauchen, um Innovationen voranzutreiben. Neben Design und Optimierung beraten wir auch Automobilhersteller und bilden Experten aus – immer unter Berücksichtigung einer Vielzahl von Themen wie Nachhaltigkeit, IT-Sicherheit und automatisiertes Fahren.
Jedes Jahr lädt die Allianz Journalisten aus aller Welt ein, um mit internen Experten über Zukunftstrends in der Verkehrssicherheit und der automobilen Mobilität zu diskutieren – live vor Ort und digital. „Mit dem Motor Day versuchen wir, die Allianz in einer Mischung aus Theorie und Praxis zum Leben zu erwecken“, sagt Dr. Christian Sahr, Geschäftsführer des AZT.
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** Stand: 30. Juni 2024