Der Novemberpogrom 1938: Bedeutung und Hintergründe
In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 fand in ganz Deutschland ein Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung statt. Die NS-Propaganda stellte diese Gewaltaktion als spontanen "Ausbruch des Volkszorns" dar, nachdem der deutsche Diplomat Ernst vom Rath in Paris von dem 17-jährigen Polen Herschel Grynszpan erschossen worden war. Die Ausschreitungen waren der vorläufige Höhepunkt der Angriffe auf Juden in Deutschland und Österreich.

Über 1.400  Synagogen und Betstuben wurden zerstört oder beschädigt und etwa 7.500 Geschäfte verwüstet. Mindestens 400 Menschen verloren dabei ihr Leben. Rund 30.000 jüdische Bürger wurden in Konzentrationslager verschleppt. In der Pogromnacht erreichte der organisierte antisemitische Terror bis dahin unbekannte Ausmaße

Der Weg zum vollständigen Ausschluss der Juden aus der deutschen Gesellschaft war nun bereitet.
Das in der Pogromnacht zerstörte Kaufhaus Uhlfelder in München (Stadtarchiv München)
Das in der Pogromnacht zerstörte Kaufhaus Uhlfelder in München (Stadtarchiv München)
Chronik
  • Reichsweiter Pogrom - sogenannte Reichskristallnacht - gegen die jüdische Bevölkerung
  • Hermann Göring ordnet eine kollektive Strafabgabe für Schäden der Pogromnacht an. Die jüdische Bevölkerung muss eine Pauschalzahlung in Höhe von 1 Milliarde Reichsmark leisten.
Die Sitzung im Luftfahrtministerium vom 12. November 1938
Nach dem Pogrom erließen staatliche Stellen eine Flut gesetzlicher Anordnungen, die die Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung forcierten, ihre Auswanderung beschleunigten und sie noch schärfer von der übrigen Bevölkerung isolieren sollten. Diese Anordnungen waren das Ergebnis einer von Hermann Göring einberufenen Konferenz, die am 12. November 1938 im Berliner Reichsluftfahrtministerium tagte.

Göring war es seit 1936 gelungen, sich  faktisch als "Wirtschaftsdiktator" zu etablieren. Sein Ziel war die Mobilisierung der Wirtschaft für den Krieg. Dazu sollte auch das Vermögen der jüdischen Bevölkerung herangezogen werden.

Unter Görings Regie berieten am 12. November etwa 100 Vertreter aus der Ministerialbürokratie und den Sicherheitsapparaten mit einzelnen Experten aus der Wirtschaft über die Folgen des Pogroms. Konkretes Resultat der Konferenz waren folgende Maßnahmen: Unter dem Vorwand einer Wiedergutmachung für den Angriff auf Ernst vom Rath wurde der gesamten jüdischen Gemeinde eine sogenannte "Sühneleistung" in Form einer pauschalen Zwangsabgabe von 1 Milliarde Reichsmark auferlegt.

Mit einer Verordnung zur "Wiederherstellung des Straßenbildes" konfiszierte das Reich alle eventuell existierenden Sachversicherungsansprüche deutscher Juden. Dies betraf nur die Fälle, in denen Versicherungsschutz gegen Schäden durch innere Unruhe bestand. Alle Ladenbesitzer wurden zur Reparatur sämtlicher Schäden an ihren Geschäften verpflichtet. Die zwangsweise "Arisierung" aller Gewerbebetriebe sollte schnellstmöglich fortgesetzt werden.

Es folgte eine Unzahl weiterer diskriminierender Verordnungen. Innerhalb weniger Wochen verlor die jüdische Bevölkerung massiv an Rechten und Freiheiten.
Im Reichsluftfahrtministerium in Berlin fand am 12. November die Sitzung zur Pogromnacht unter Leitung von Hermann Göring statt (Schöning Verlag, Lübeck)
Im Reichsluftfahrtministerium in Berlin fand am 12. November die Sitzung zur Pogromnacht unter Leitung von Hermann Göring statt (Schöning Verlag, Lübeck)
Glossar
Einer der mächtigsten Politiker im nationalsozialistischen Deutschland, der eine Vielzahl von Ämtern inne hatte: Reichsminister für Luftfahrt, Beauftragter für den Vierjahresplan, wodurch er eine Art Wirtschaftsdiktator wurde, Reichsmarschall der Wehrmacht. Göring war eine zentrale Figur bei der wirtschaftlichen Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung.
Chronik
  • Deutsche Truppen marschieren in Österreich ein - Annexion Österreichs
  • Verordnung über die amtliche Registrierung jüdischer Vermögenswerte
  • Deutsche Truppen besetzen das Sudetenland
  • Reichsweiter Pogrom - sogenannte Reichskristallnacht - gegen die jüdische Bevölkerung
  • Hermann Göring ordnet eine kollektive Strafabgabe für Schäden der Pogromnacht an. Die jüdische Bevölkerung muss eine Pauschalzahlung in Höhe von 1 Milliarde Reichsmark leisten.
Versicherung und Pogrom: Eduard Hilgards Vortrag am 12.11.1938
Am Vormittag des 12. November 1938 wurde Eduard Hilgard als Leiter der Reichsgruppe Versicherung zur Teilnahme an der kurzfristig anberaumten Sitzung ins Reichsluftfahrtministerium einbestellt. Herman Göring beschrieb den Pogrom als "umfangreiches wirtschaftliches Problem". Eduard Hilgard wurde in seiner Funktion als höchster Repräsentant der privaten Versicherungswirtschaft zu dem Teil der Konferenz hinzugezogen, der sich mit Fragen der Versicherungshaftung für die materiellen Pogromschäden befasste. Informationen, wie etwa zuverlässige Schadensschätzungen lagen Hilgard noch nicht vor.

Göring legte die wichtigsten Richtlinien für die Schadensregulierung fest.

Alle Ansprüche von nichtjüdischen Geschädigten und jüdischen Versicherten mit ausländischer Staatsbürgerschaft mussten beglichen werden und Ansprüche jüdischer Geschädigter mit deutscher Staatsangehörigkeit wurden durch eine ministerielle Verordnung aufgehoben und dann vom Staat konfisziert.

Zu einer abschließenden Regelung kam es erst im August 1939 nach langwierigen Verhandlungen zwischen Versicherern und Ministerialverwaltung. Dabei gelang es Hilgard, die ursprünglichen Forderungen der Regierung an die Versicherungsunternehmen erheblich zu reduzieren. Für die Ansprüche der geschädigten deutschen jüdischen Kunden aus der Pogromnacht musste die Versicherungswirtschaft schließlich einmalig eine Pauschalsumme von 1,3 Mio. Reichsmark an das Reich zahlen. Ansprüche ausländischer Geschädigter wurden vertragsgemäß ausgezahlt.
Eduard Hilgard nahm als Leiter der Reichsgruppe Versicherung an der Sitzung im Luftfahrtministerium teil
Eduard Hilgard nahm als Leiter der Reichsgruppe Versicherung an der Sitzung im Luftfahrtministerium teil
Glossar
Die Reichsgruppe Versicherung war die 1934 gegründete zentrale Organisation und der Interessenverband der Versicherungsunternehmen. Leiter der Gruppe war das Allianz Vorstandsmitglied Eduard Hilgard.
Einer der mächtigsten Politiker im nationalsozialistischen Deutschland, der eine Vielzahl von Ämtern inne hatte: Reichsminister für Luftfahrt, Beauftragter für den Vierjahresplan, wodurch er eine Art Wirtschaftsdiktator wurde, Reichsmarschall der Wehrmacht. Göring war eine zentrale Figur bei der wirtschaftlichen Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung.
Chronik
  • 1921-1944 Mitglied des Vorstands der Allianz
  • 1933 stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Allianz
  • 1933 Vorsitzender des Reichsverbands der Privatversicherung
  • ab 1934 Leiter der Reichsgruppe Versicherungen
  • 1944 Ausscheiden aus dem Vorstand der Allianz
  • 1948-1953 Mitglied des Aufsichtsrats der Allianz

Gerd Modert
Corporate Historian

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