Die Geschichte von Martin Lachmann

Das Schicksal von Martin Lachmann, Versicherungsagent der Allianz

 

Peter Haas erinnert sich nur sehr vage. Schließlich war er erst vier Jahre alt, als er seinen Großvater Martin Lachmann zuletzt sah. Er war sehr großzügig, schenkte ihm ein Tretauto, nahm ihn mit ins Theater und der Chauffeur fuhr die beiden im Dienstwagen durch Berlin. Das war 1938. Was danach passierte, weiß er nur aus Briefen seines Opas und dem Wenigen, das die Familie ihm später erzählte.

Martin Lachmann schreibt am 22. Oktober 1941 an seine Tochter Ruth und seinen Schwiegersohn Leopold Haas, die im Exil in Schweden leben. Es war sein letzter Brief. Am 14. November 1941 verließ der Zug, mit dem er und mehr als 1.000 weitere jüdische Verfolgte nach Minsk deportiert wurden, den Bahnhof Berlin-Grunewald. Wenn die amtlichen Angaben stimmen, hat er die Ankunft der vier Tage dauernden Reise im Ghetto Minsk nicht mehr erlebt. Er soll am 16. November gestorben sein.
Martin Lachmann mit seinem Enkelsohn Peter Haas 1938.
Portrait von Martin Lachmann.
Martin Lachmann war für die Allianz ein idealer Mitarbeiter: dynamisch, erfolgreich, souverän und loyal bis zum letzten Moment. Am 16. September 1881 wurde er im niederschlesischen Glogau an der Oder geboren. Er zog mit seinen Eltern und den drei Schwestern Lucie, Frieda und Judith um die Jahrhundertwende nach Berlin und arbeitete seit 1907 im Außendienst in der Versicherung. Verheiratet war er mit Aenne Alsberg (1885-1942), die aus einer wohlhabenden Unternehmerfamilie im Rheinland stammte. Das Paar bekam 1911 eine Tochter, Ruth Ernestine.
Bei der Allianz machte Martin Lachmann Karriere als Generalagent und unterhielt mit der „Subdirektion Lachmann“ in Berlin-Charlottenburg eine florierende Agentur. Von der Gründung 1929 bis 1937 war er Mitglied des so genannten Millionen-Clubs der erfolgreichsten Vertreter.

Anders als die meisten jüdischen Deutschen, konnte Martin Lachmann auch nach 1933 zunächst seine Stellung und sein Einkommen behalten.
Doch mit der Zeit wurde seine Welt immer mehr vom Antisemitismus bedroht. 1938 begann er die Möglichkeit einer Auswanderung zu prüfen. Allianz-Chef Hans Heß wurde eingeschaltet, um ihm den Weg zu einer Stellung in der Schweiz zu ebnen. Doch Lachmanns Skepsis wuchs. Knapp drei Wochen vor der Reichspogromnacht, am 20. Oktober 1938, schrieb er an seine Tochter Ruth und ihren Mann in Stockholm:
Eine Woche später dann die Hiobsbotschaft: In einem persönlichen Gespräch erklärte ihm Hans Heß, dass die Allianz seinen Agenturvertrag zum Jahresende 1938 beenden müsse. Martin Lachmann reagierte zunächst verständnisvoll: „Die Herren der Gesellschaft wollen mir wohl und erkennen auch uneingeschränkt die großen Verdienste an, die ich mir […] erworben habe. Jedoch die Umstände sind vielleicht mächtiger als der Wille meiner Vorgesetzten.“

Wenig später aber folgte der nächste Schock. Der Justitiar der Allianz, der spätere Generaldirektor Hans Goudefroy, und Hans Heß erklärten ihrem langjährigen Mitarbeiter, dass er nur ein Drittel der vertraglich vereinbarten jährlichen Versorgung erhalten werde. Die politischen Umstände erlaubten es nicht, so ihre Begründung, einem jüdischen Pensionär Ruhestandsbezüge in dieser Höhe zu zahlen.
Aufnahme Martin Lachmanns in Militäruniform.
Anzeige in der Allianz-Zeitung, die Martin Lachmann als Träger der Allianz Ehren-Medaille des Jahres 1933 präsentiert.
Im Unrechtssystem des antisemitischen NS-Staates gab es für Martin Lachmann keine Möglichkeit sich gegen die Kürzung zu wehren. Er musste seine Wohnung aufgeben, reduzierte seine Ausgaben, lebte nun zur Untermiete, und hoffte auf ein Leben in der Schweiz. Doch die dortigen Behörden zierten sich, so dass er in den folgenden Jahren, unterstützt durch die Familie in Schweden und vereinzelte Aktivitäten anderer Verwandter und Bekannter die verschiedensten Optionen zur Emigration nach Chile, Mexiko und in die Dominikanische Republik verfolgte. Doch im Laufe der Zeit zerschlugen sich alle vermeintlichen Möglichkeiten.
Martin Lachmanns Briefe belegen die Sehnsucht nach seiner Familie, vor allem dem geliebten, aber unerreichbar fernen Enkelkind. Zugleich war er bemüht, ihre Sorgen über seine zunehmend beängstigende Lage zu zerstreuen.

Am 18. Oktober 1941 wurden dann mehr als 1.000 Berliner Jüdinnen und Juden mit dem ersten Berliner Deportationszug nach Litzmannstadt (Łódź) im vom nationalsozialistischen Deutschland besetzten Polen verschleppt. Am 14. November verließ dann der Zug, mit dem Martin Lachmann und mehr als 1.000 weitere Verfolgte nach Minsk deportiert wurden, den Bahnhof Berlin-Grunewald. Martin Lachmann starb bereits auf der Fahrt. Er sah seinen geliebten Enkel nie wieder.
1999 meldet sich die Allianz bei Peter Haas. Spät sei das, sagt er, aber immerhin. Die Allianz stellt sich ihrer Vergangenheit. Der Historiker Gerald D. Feldman erforscht damals die Geschichte des Unternehmens in der NS-Zeit und sucht das Gespräch. Die Mitarbeiterzeitung der Allianz berichtet davon. Peter Haas erzählt, was er über seine Großeltern weiß, was er über viele Jahre hin herausgefunden hat über die Schicksale seiner Familie. Er blättert durch alte Fotos und erklärt, wie die Geschichte zum Thema seines Lebens geworden ist. Bis zur Pensionierung war er Geschichtslehrer und Rektor einer Schule in Schweden. Die Flucht aus Deutschland, die den Großeltern nicht gelang, belastetet ihn, seine Mutter Ruth und seinen Vater Leopold Zeit ihres Lebens: „Ich weiß, was es heißt, Einwanderer zu sein.“ Gefahren für die Freiheit gebe es in jeder Gesellschaft und zu jeder Zeit, da gebe es keine Garantien. Um diese Gefahren zu erkennen, müsse man hinsehen und handeln. Für Peter Haas ist dabei Geschichte der wichtigste Schlüssel zur Zukunft.
Peter Haas im Arbeitszimmer in seinem Haus in Schweden (2002).

1907 Versicherungsvertreter der Allianz in Berlin

1920er und frühe 1930er Jahre einer der erfolgreichsten Versicherungsagenten der Allianz

1939 im Zuge der Ausgrenzung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben keine Verlängerung des Vertrags zwischen der Allianz und Martin Lachmann

Martin Lachmann wird nach Minsk deportiert und stirbt am 16. November 1941

Gerd Modert
Corporate Historian

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