Was ist Vertrauen eigentlich wert?

Weltbank-Ökonom Stephen Knack sagte einmal, dass sich "der Unterschied zwischen dem Pro-Kopf-Einkommen in den Vereinigten Staaten und in Somalia" praktisch durch Vertrauen erklären lasse. Das Einkommen beläuft sich derzeit auf 46.546 US-Dollar in den USA und 220,30 US-Dollar in Somalia (UN 2009/2010). Das heißt, der Unterschied beträgt mehr als 46.300 US-Dollar. Glaubt man Knack, so ist der Unterschied, den das kleine Wörtchen Vertrauen ausmacht, also durchaus beträchtlich.

Doch andere Wirtschaftswissenschaftler würden Vertrauen aus solchen Berechnungen lieber ganz heraus lassen. Oliver E. Williams bemängelt in Calculativeness, Trust and Economic Organization (1992) beispielsweise, dass "Vertrauen" und "Risiko" gleichbedeutend verwendet werden. Seiner Meinung nach ist es "bestenfalls überflüssig oder gar irreführend, effiziente und sichere Handelsbeziehungen mit dem Begriff 'Vertrauen' zu beschreiben."

Selbst in Fällen, wo Vertrauen gerechtfertigt scheint, weil sich beide Seiten ein positives Ergebnis erhoffen, handele es sich einfach um eine andere Art von Wirtschaftsbeziehung. Letztere beschreibt er als "berechnendes Vertrauen", ein Oxymoron. Das Wort Vertrauen solle dagegen, so Williams, ausschließlich für nicht-berechnende, persönliche Beziehungen innerhalb der Familie und zwischen Freunden und Liebenden verwendet werden.

Aber muss man Vertrauen, ganz egal wie schwer zu fassen der Begriff ist, tatsächlich so restriktiv interpretieren? Bei seinem Vergleich zwischen den USA und Somalia legt Stephen Knack eine breitere Definition zugrunde. Zu seinem Verständnis von Vertrauen gehört beispielsweise auch, dass zwei Partner zuversichtlich einen Geschäftsplan aufstellen, nicht etwa, weil sie eine persönliche Beziehung zueinander haben, sondern weil sie in einem Land leben, in dem das Rechtssystem und die gesellschaftlichen Spielregeln Vertrauen und Stabilität garantieren. "Wenn Sie Vertrauen so verstehen, dann ist es definitiv entscheidend für wirtschaftlichen Erfolg", erklärt Knack.

In einer Reihe von Artikeln, die Knack in den späten 90er Jahren erst mit Philip Keefer und dann mit Paul Zak verfasste, untersuchte er den wirtschaftlichen Ertrag von Sozialkapital und den Zusammenhang zwischen Vertrauen und Wachstum. Er ging insbesondere der Frage nach, weshalb es armen Ländern nicht gelingt, ihren Entwicklungsrückstand aufzuholen.

"Vertrauen existiert unserer Meinung nach nicht unabhängig von offiziellen Institutionen, sondern es ist untrennbar mit ihnen verbunden. In juristischen und sozialwissenschaftlichen Fachzeitschriften finden Sie eine ganze Reihe von Untersuchungen, die einen starken Zusammenhang von Recht und gesellschaftlichen Normen beschreiben. So entwickeln sich gesellschaftliche Normen oft aufgrund der Rechtssysteme, in denen sie existieren. Vertrauen entsteht durch die Wechselwirkungen zwischen Rechtssystemen und sozialen Beziehungen", erläutert Knack.

Knacks Artikel "Does Social Capital Have an Economic Payoff" (1997, zusammen mit Keefer) zeigt, welche Vorteile durch Vertrauen entstehen können. So geben Menschen, die in Ländern mit einem hohen Vertrauensniveau leben, weniger Geld aus, um sich vor wirtschaftlicher Ausbeutung zu schützen. Es gibt weniger Rechtsstreitigkeiten, weniger Ressourcen werden für den Schutz der eigenen Person und des Eigentums sowie für Bestechungsgelder aufgewandt.

Project M 02/2012 - Multiplying Investment & Retirement Knowledge
Dieser Artikel wurde ursprünglich im Magazin "Project M" veröffentlicht. Project M online
Unternehmer, die sich gezwungen sehen, viel Zeit darauf zu verwenden, potenzielles Fehlverhalten von Partnern, Mitarbeitern und Lieferanten zu identifizieren, haben weniger Zeit für Neuentwicklungen.

Unternehmer, die sich gezwungen sehen, viel Zeit darauf zu verwenden, potenzielles Fehlverhalten von Partnern, Mitarbeitern und Lieferanten zu identifizieren, haben weniger Zeit für Neuentwicklungen.

Im Gegensatz dazu beeinträchtigt ein Umfeld, das von geringem Vertrauen geprägt ist, den Innovationsgeist. Unternehmer sehen sich gezwungen, mehr Zeit darauf zu verwenden, potenzielles Fehlverhalten von Partnern, Mitarbeitern und Lieferanten zu identifizieren, und haben so wenig Zeit für Neuentwicklungen. In dem Artikel "Why Poor Countries Don't Catch Up" (1998) stellten Knack und Keefer außerdem fest, dass institutionelle Mängel (im rechtlichen, politischen und aufsichtsrechtlichen Rahmenwerk) dazu führen, dass weniger investiert wird. Deshalb ist es für die betroffenen Länder schwieriger, sich den technologischen Fortschritt aus dem Ausland zu Nutze zu machen, was wiederum das Wirtschaftswachstum verlangsamt.

"Solange Investoren nicht darauf vertrauen können, dass die Regierung ihre Vermögenswerte nicht beschlagnahmt und dass sie nicht von anderen hintergangen werden, kann es keine moderne Wirtschaft geben", schlussfolgert Knack. "So gesehen ist Vertrauen entscheidend und ohne Vertrauen wäre das Pro-Kopf-Einkommen heute wesentlich geringer als es tatsächlich ist."

Eine Region, die Soziologen und Wirtschaftswissenschaftler unter dem Aspekt Vertrauen - oder besser Misstrauen - besonders gründlich untersucht haben, ist Süditalien. Dass diese Region nicht in der Lage ist, sich sozial und wirtschaftlich weiterzuentwickeln, obwohl der Rest der italienischen Bevölkerung im europäischen Vergleich äußerst wohlhabend ist, stellt Wirtschaftswissenschaftler schon lange vor ein Rätsel.

"Das ist eine wirklich wichtige Frage, wichtiger noch, als warum ein Land südlich der Sahara Schwierigkeiten hat sich zu entwickeln", sagt Diego Gambetta, Soziologe an der University of Oxford. Seine Forschungen in Palermo stellt er in The Sicilian Mafia: The Business of Private Protection (1993) dar.

"Ich kam zu der Schlussfolgerung , dass es hier um Vertrauen geht. Aber wenn das Vertrauen so gering ist, wenn die gesamte Region durch Misstrauen zerstört ist, wie kommt es dann, dass es in Süditalien überhaupt noch soziale Beziehungen gibt?"

Gambetta ahnte, dass die Mafia, die in Teilen des Südens über großen Einfluss verfügt, im Grunde eine Institution ist, die von fehlendem Vertrauen profitiert. Seiner Meinung nach sind "die Aktivitäten der Mafia alles andere als sozialverträglich."

Nach Ansicht von Gambetta schafft die Art und Weise, wie die Mafia agiert, Misstrauen in der breiten Bevölkerung. Lediglich diejenigen, die unter dem Schutz der Mafia stehen, fühlen sich sicher - so sicher, dass sie nicht mehr vertrauenswürdig handeln müssen. Da die Mafia durch ihre Schutzfunktion unzuverlässiges Verhalten fördert, untergräbt sie unser Bestreben, ein vertrauenswürdiger Geschäftspartner zu sein. Es gibt keinen Grund, unabhängig von der Mafia nach günstigeren Methoden der Zusammenarbeit zu suchen. "Die Mafia", schreibt Gambetta, "ist Opium für das skeptische Volk."

Auch Christian Bjørnskov von der Aarhus Universität in Dänemark ist überzeugt, dass Vertrauen einen ökonomischen Wert besitzt. In seinem neuesten Artikel “How Does Social Trust Affect Economic Growth?” (Southern Economic Journal) untersuchte Bjørnskov, wie  genau Vertrauen wirtschaftliche Entwicklung fördert.

Bisher kam seine Forschung zu dem Ergebnis, dass Vertrauen sich auf Investments, Bildung, Kontrolle, den internationalen Handel und die Regierungsgewalt auswirkt und somit das Wirtschaftswachstum fördert. Bjørnskovs Studie lässt jedoch darauf schließen, dass lediglich zwei Kanäle von Bedeutung sind: Bildung und Kontrolle.

"Vertrauen wirkt sich auf die Funktionsfähigkeit des Rechtssystems und der Bürokratie aus, und diese wiederum hat einen Einfluss auf die Wirtschaft, wahrscheinlich aufgrund der Transaktionskosten. Vertrauen spielt ebenfalls eine Rolle was das Bildungsniveau in einem System angeht, das natürlich ebenfalls die Wirtschaft betrifft. Durch diese Kanäle kann Vertrauen Wachstum langfristig beeinflussen."

Bjørnskov warnt jedoch davor, ein hohes Maß an Vertrauen und starke Rechts- und Bildungssysteme als die einzigen Faktoren für wirtschaftlichen Erfolg zu betrachten. Auch andere Bereiche, die nichts mit Vertrauen zu tun haben, wie die Handelspolitik, sind von Bedeutung.

"Die Wirtschaftsgeschichte zeigt, dass es viele Wege zum Wachstum gibt. So attestieren die Indizes Frankreich, einem der reichsten Länder der Welt, ein unterdurchschnittliches Maß an Vertrauen. Dasselbe gilt für Länder, die sich sehr rasch entwickeln, wie zum Beispiel Malaysia und Singapur", erläutert Bjørnskov. "Dennoch ist es wahrscheinlicher, dass sich die Institutionen und das Bildungssystem positiv entwickeln, wenn das Vertrauen in einem Land relativ hoch ist. Abgesehen davon kann Vertrauen wenig ausrichten, doch allein das ist schon genug."

Diese Aussagen stehen, wie immer, unter unserem Vorbehalt bei Zukunftsaussagen

Claudia Mohr-Calliet
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