Es galt als sicher, dass es in Europa keinen Krieg mehr geben wird. Es galt als sicher, dass Deutschland als Industrienation wirtschaftlichen Erfolg haben wird. Es galt als sicher, dass Amerika unser verlässlicher Verbündeter ist. Es galt als sicher, dass wir gute Beziehungen zu China haben und dort Märkte erschließen können. Es galt als sicher, dass wir aus der Atomenergie und der Kohle aussteigen können. Es galt als sicher, dass wir billiges russisches Erdgas bekommen können. Es sind in wenigen Jahren seit der Covid-Pandemie also viele Sicherheiten verloren gegangen. Wir müssen nun schmerzhaft erkennen, dass wir nicht länger in einem sicheren Europa leben, das es sich leisten kann, die Binnengrenzen in der Europäischen Union aufzugeben, weil wir einen funktionierenden gemeinsamen Außenschutz haben. Zugleich merken wir, dass wir uns nicht abschotten können, sondern dass dramatische Fluchtbewegungen dazu führen, dass viele Menschen in unser Land drängen. Es ist, wie es der frühere Bundespräsident Joachim Gauck gesagt hat: Unser Herz ist weit. Doch unsere Möglichkeiten sind endlich.
Dazu kommen Akteure, die diese Unsicherheiten für ihre politischen Bestrebungen nutzen. Das sehen wir in Amerika sehr deutlich, aber auch immer stärker in Deutschland. Ist Polarisieren salonfähig geworden?
Dass es unterschiedliche Pole in der Welt gibt, ist erstmal nichts Schlimmes. Das ist in der Welt genauso normal wie in einer Demokratie. Demokratische Parteien leben sogar ein Stück weit von Polarisierung, weil sie die Unterschiede damit deutlich hervorheben können und damit auch für Wählerinnen und Wähler einen Anlass dafür geben wollen, den einen zu wählen, den anderen nicht.
Die Polarisierung wird zur Gefahr, wenn sie sich mit dem Ressetiment verbündet und beginnt in Freund-Feind-Bildern zu denken. Bislang waren Parteien in Deutschland Wettbewerber, nicht Feinde. In den USA ist das bereits seit Jahren anders: Dort sind Republikaner und Demokraten echte Feinde geworden, die gegen die andere Seite kämpfen, um das Land vor dem vermeintlichen Untergang zu schützen, wenn die andere Seite an der Regierung ist. Wer aber überzeugt davon ist, dass der jeweilige Wettbewerber das Land ruinieren wird, der ist auch bereit zu Mitteln zu greifen, die eigentlich in einer Demokratie und einem Rechtsstaat verboten sind. Auf einmal heiligt der Zweck die Mittel. Das was vorgeblich geschützt werden soll, wird zerstört. Die USA sind in Gefahr, dass das passiert.
Mit dem Auftauchen der AfD und jetzt auch mit dem Bündnis Sarah Wagenknecht ist das Freund-Feind-Denken und das Ressentiment auch in Deutschland zurückgekehrt. Zusammen mit einer unglaublichen Herzlosigkeit und Kälte, wie ich sie zum ersten Mal bei Alica Weidel und Sarah Wagenknecht wahrnehme. Vor dem Gedanken, dass diese politischen Bewegungen in Deutschland Mehrheiten erringen könnten, graut es mir. Aber dagegen kann man auch etwas tun. . Die demokratischen Parteien haben Felder wie Migration und innere Sicherheit bislang unbesetzt gelassen und Versprechungen gemacht, die sie am Ende nicht einhalten konnten. Auch das schafft Raum für Populisten. Vor allem die beiden ehemals großen Volksparteien SPD und CDU/CSU haben es in der Hand, diese Fehler zu korrigieren.
Die sozialen Medien sind nicht die Ursache, sondern sie verschärfen das Problem – vor allem unter den jungen Leuten, die bei TikTok und anderen Plattformen unterwegs sind. Soziale Medien eignen sich hervorragend für das Zuspitzen der Ressentiments, aber sind weniger geeignet den demokratischen Diskurs widerzugeben, weil dieser anstrengender zu konsumieren ist, weil man sich mit Sachfragen auseinandersetzen und Kompromisse suchen muss. Der Kompromiss ist aber das Gegenteil von dem, was in den sozialen Netzwerken große Reichweite erzielt.
Die Folge von alle dem, was sie beschreiben, ist ein Vertrauensverlust in die Regierungen und Medien in der Bevölkerung, immer mehr Menschen nabeln sich ab und ziehen sich zurück in ‚selbst-referentielle Blasen‘. Wie lässt sich die Vertrauenskrise angehen und wieder mehr Gemeinschaft stiften? Was können Organisationen und Regierungen tun, um diese Spaltung zu überwinden?
Auch da muss man nicht gleich in Panik verfallen. Die aktuellen Umfragen zeigen ja, dass zwischen 70 und 80 Prozent unserer Wahlbevölkerung den Polarisierern nicht auf den Leim gehen. Das darf man aber nicht so missverstehen, dass diese 70 bis 80 Prozent zufrieden wären mit dem, was ihnen die demokratischen Parteien anbieten. Im Gegenteil. Deshalb ist die wichtigste Aufgabe zuerst, diese starke demokratische Mitte stabil zu halten. Dafür müssen Politiker, Parteien und gelegentlich auch Medien ernsthafter mit den Themen umgehen, die sie bisher aussparen, weil es unangenehm ist, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Der Rückzug in die parteipolitischen Wärmestuben, wo man sich gegenseitig das verspricht, was man schon seit Jahren innerparteilich für wünschenswert hält, ist ganz sicher der falsche Weg. Raus ins Leben, in den Alltag Deutschlands und Offenheit und Neugierde auf das, was Menschen in unserem Land leisten, wovor sie Angst haben und was sie sich von der Politik erhoffen. Ich habe mal meiner Partei vor Jahren gesagt: Ihr müsst dahin gehen, wo es wehtut, wo es riecht und manchmal auch stinkt. Denn nur da werden wir gebraucht. Dafür habe ich jede Menge Beifall bekommen – nur getan hat es niemand.
Womit man aufhören kann, ist das ständige Reden vom Wahlkampf „gegen rechts“. Erstens darf man in Deutschland rechts und auch national-konservativ sein. Wogegen wir uns wehren müssen, sind Rechtsradikale, Rechtsextremisten und Rechtsterroristen. Um denen entgegenzutreten, muss man über die Themen sprechen, die den rechtsextremen Populisten die Wählerinnen und Wähler zutreibt. Gleiches gilt für die nationalbolschewiste Bewegung von Sarah Wagenknecht. Die Parteien müssen sich mit den zugrunde liegenden Ängsten und den Gründen für die Orientierungslosigkeit in unserer Bevölkerung viel ernsthafter beschäftigen. Es geht nicht um das oft zitierte bessere Erklären der Politik, die Bürgerinnen und Bürger verstehen die Themen sehr wohl, sie wünschen sich nur andere Positionen und Maßnahmen. Das zeigt exemplarisch das Thema „Migration“, dass gerade das alles beherrschende Thema insbesondere bei Rechtspopulisten. Wenn es den demokratischen Parteien nicht gelingt, in der Migrationsfrage wirksame Lösungen zu vereinbaren, die mit rechtsstaatlichen Mitteln umgesetzt werden können, dann wird dieses Thema auch in den nächsten Bundestagswahlkampf hinein bestimmend bleiben.
Es gibt keine Bilderbuchlösung. Und es wird nicht die eine Blaupause für das Migrationsthema geben. Aber es gibt eine ganze Reihe von Maßnahmen, an deren Anfang das gemeinsame Signal nach außen stehen muss, dass Deutschland nicht mehr in der Lage und nicht mehr willens ist, diese Aufgabe für Europa de facto fast alleine zu übernehmen. Im Grunde erleben wir ein doppeltes Versagen in der Migrationspolitik: Zum einen haben wir keine echte Kontrolle über die Frage, wer zu uns kommen darf. Zum anderen versagen wir bei der Integration derjenigen, die hier sind, weil wir dafür zu wenig ausgeben, weil wir dafür zu wenig Leute haben und weil wir uns nicht genug Mühe dafür geben.
Wenn es den demokratischen Parteien nicht gelingt, den Angstüberschuss, der aus der ungeklärten Migrationsfrage entsteht, zu beseitigen, dann wird dies das bestimmende Thema bleiben und Tür und Tor für jede Form von Ressentiment öffnen. Wir brauchen aber nicht noch mehr Angstüberschuss in Deutschland. Um die Polarisierung zurückzudrängen, benötigen wir vielmehr einen Hoffnungsüberschuss, der sich auch in der Überzeugung gründet, dass dieses Land in den letzten Jahrzehnten, vielleicht sogar in den letzten 200 Jahren, etwas besser konnte als die meisten anderen Länder auf der Erde: Wir hatten immer wirtschaftlichen Erfolg und hatten das Selbstverständnis ein reiches und innovatives Land zu sein, das der Motor der europäischen Entwicklung war und Wohlstand erzeugen konnte.
Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wissen ganz genau, wie wichtig ihre Unternehmen für ihren eigenen Wohlstand sind. Dennoch scheint es in der gesellschaftlichen Debatte eine Entkopplung zu gegeben zwischen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, wirtschaftlichem Erfolg und den sozialen, kulturellen und ökologischen Lebensumständen, die wir im Alltag wie kaum in einem anderen Land der Erde genießen können. Das merken Sie daran, wenn Sie als Politiker über Wirtschaftspolitik sprechen wollen. Sehr schnell bekommt dies den Beigeschmack eines unanständigen Lobbyismus „für die da oben in der Wirtschaft“. An diesem Ressentiment sind unsere Medien durchaus beteiligt. Wenn ich nur an den Unsinn denke, den auch Qualitätsmedien in der Diskussion um Freihandelsabkommen mit den USA und Canada verbreitet haben, dann war da wenig Wissen, aber jede Menge Vorurteile zu lesen und zu hören.
Ich bin überzeugt, dass es auch Aufgabe der Politik wäre, wieder stärker deutlich zu machen, dass attraktive Investitions- und Innovationsbedingungen in Deutschland nicht das Hinterherschmeißen von Geld für wirtschaftlich mächtige Unternehmen sind. Vielmehr sichern wir damit die Innovationsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und damit letztlich all das, was wir in unserem Land mit unseren Kindern und Enkeln genießen wollen. Letztlich ist auch der „Green Deal“ für eine klimafreundliches Europa nur möglich, wenn die ökonomische Leistungsfähigkeit vorangeht. Das wäre der erste Schritt, um wieder einen Hoffnungsüberschuss zu erzeugen.
Henry Kissinger hat über Deutschland mal gesagt: „Die Deutschen sind arme Kerle. Für Europa sind sie zu groß und für die Welt zu klein.“ Für uns muss klar sein, dass an dem Ziel der europäischen Einigung weiterhin kein Weg vorbeigeht. Nicht damit Grenzen offenbleiben und wir überall die gleiche Währung haben, sondern weil in dieser Welt des 21. Jahrhunderts kein einziger Nationalstaat in Europa eine Chance haben wird, Gehör zu finden. Das gelingt nur einem Europa als Ganzes.
Dass Europa bei allen Konflikten und Friktionen ein unglaubliches Signal der Hoffnung ist. Nirgendwo auf der Welt ist es in der Vergangenheit gelungen, eine erbitterte Feindschaft mit Krieg und Völkermord in weniger als einem Menschenleben hin zu Partnerschaft und Freundschaft zu wandeln. Europa ist der einzige Kontinent, der nicht mal ein Menschenleben gebraucht hat, um von Auschwitz nach Straßburg zu kommen.
Welche Rolle sollte oder kann die Wirtschaft aus Ihrer Sicht übernehmen, gerade die CEOs und Führungsspitzen der Unternehmen, um einen Beitrag zu mehr Zusammenhalt zu stiften?
Natürlich haben Unternehmer große Möglichkeiten. Dadurch, dass sie sich mit ihren Beschäftigten darüber austauschen, was in der Vergangenheit in diesem Land alles gelungen ist und welche Voraussetzungen wir brauchen, damit das auch in Zukunft so bleibt. Die Frage ist aber, ob sich Unternehmer und Führungsspitzen trauen, mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in einen ehrlichen und offenen Dialog über die Zukunft unserer Gesellschaft zu treten und dabei auch keine Angst vor kritischen Auseinandersetzungen haben?
Die Belegschaften sind ein Spiegel der Gesellschaft. Letztlich könnten die Führungskräfte vor den gleichen populistischen Meinungsäußerungen und Wutmeldungen stehen, wie wir sie in der Politik erleben. Es ist die Aufgabe, davor nicht zurückzuschrecken, sondern die Sorgen und Ängste der Mitarbeiter ernst zu nehmen und zu versuchen herauszufinden, wie der Angstüberschuss, der in diesen Menschen sitzt, beseitigt werden kann.
Ich glaube, dass bei vielen Abgeordneten spätestens mit der Wahl ins Parlament sukzessive eine Entwicklung beginnt, bei der die Ausschusssitzungen und das Treffen in Parteigremien wichtiger werden als das Tummeln auf dem Feuerwehrfest oder bei einer Elternversammlung. Diese Entkopplung von der normalen Lebenswirtlichkeit vieler Menschen trägt dazu bei, dass die Distanz zu demokratischer Politik immer größer geworden ist. Deshalb brauchen wir neue Verfahren und Plattformen, die Brücken zwischen der institutionalisierten Politik und denen bauen, die sich auch von der Politik entfremdet haben, aber immer noch eine feste demokratische Grundüberzeugung haben.
Steffen Mau, Soziologe für Makrosoziologie am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität Berlin, hat viel über die Situation in Ostdeutschland geforscht. Er vertritt die Idee von Planungszellen oder Bürgerräten. Da werden zum Beispiel in der Kommune nach dem Zufallsprinzip Bürger zusammengerufen, die in einer bestimmten Zeit zu einem bestimmten kommunalen Problem eine Meinung und eine Entscheidungsvorlage erarbeiten sollen und die sich jede Form von Expertise dazu dazuholen können. Sie können Vorschläge erarbeiten, wie beispielsweise die Verkehrsführung in der Stadt geändert werden könnte. Das hat den entscheidenden Vorteil, dass wir bei den Planungen, die wir vornehmen, nicht nur Betroffenenbeteiligung machen, sondern eine echte Bürgerbeteiligung. Damit wird ein breiter Konsens jenseits der Individualinteressen und über das Gemeinwohl geschaffen. Sonst ist es nämlich oft so, dass – wenn der Lärm vor der eigenen Haustür verschwindet – auch das Interesse weg ist oder dass sich Partikularinteressen auf Kosten des Gemeinwohls durchsetzen.
Auch das Verhältnis zwischen den USA und Europa ist nicht mehr, wie es einmal war: Eine im März 2024 durchgeführte Befragung der Allianz zeigt, dass Amerikaner wie Deutsche weniger Vertrauen in die bilateralen Beziehungen und deren Zukunft setzen als noch vor zwei Jahren. Wie würden Sie das deutsch-amerikanische Verhältnis aktuell beschreiben?
Wir leben nicht mehr in einer Zeit, wo zigtausend amerikanische GI‘s Jahre in Deutschland sind, hier ihre Ehepartner finden und dann hinterher in die USA zurückgehen und damit dort das Deutschlandbild prägen und umgekehrt. Viele Amerikaner und Amerikaner haben heute keine europäischen Wurzeln mehr, sondern asiatische, afro-amerikanische, lateinamerikanische. Und auch Deutschland ändert sich und ist heterogener geworden. Man darf sich also nicht wundern, dass das Bild auf beiden Seiten des Atlantiks ein bisschen fremder erscheint.
Darüber hinaus gab es natürlich in jüngster Vergangenheit Konflikte zwischen beiden Ländern, die auch Auswirkungen haben. Letztlich ist aber eins sicher: Selbst die allergrößten Anstrengungen, verteidigungsfähiger zu werden und innerhalb Europas besser zusammenzuarbeiten, werden einen langen Zeitraum brauchen, um auch nur in die Nähe der Fähigkeiten zu kommen, die die Vereinigten Staaten von Amerika haben. Also allein aus sicherheitspolitischen Gründen müssen wir ein Interesse haben, mit den USA weiterhin in einer festen Partnerschaft zu stehen.
Genau. Gerade weil die Sicherheits- und Verteidigungspolitik lange Zeiträume in Anspruch nehmen wird, müssen wir uns auf unsere Stärken konzentrieren und dort ansetzen, wo wir mit relativ wenig Aufwand wieder besser werden können. Und das ist der europäische Binnenmarkt, das ist die Innovationsfähigkeit Europas und Deutschlands. Wir müssen dafür allerdings die Investitionsbedingungen in unserem Land wesentlich verbessern. Das beginnt bei Unternehmenssteuern und endet bei der Planungsbürokratie.
Für mich ist die geopolitische Rolle Deutschlands manchmal zu sehr auf das Thema Militär fokussiert, obwohl ich weiß, dass Verteidigungsfähigkeit ungeheuer wichtig ist. Aber den Unterschied macht letztlich unsere wirtschaftliche Kraft. Wir Deutsche werden in der Welt nicht vor allen Dingen wegen unserer Werte geschätzt, sondern besondere wegen unserer wirtschaftlichen Fähigkeiten. Und das ist der Grund, warum ich sagen würde „First things first“ oder wie es Bill Clinton mal genannt hat: „It's the economy, stupid.“
Prof. Sigmar Gabriel hatte zahlreiche politische Schlüsselpositionen in Deutschland inne, darunter die des niedersächsischen Ministerpräsidenten, des Bundesministers für Umwelt, Wirtschaft und Energie, des Außenministers sowie des Vizekanzlers der Bundesrepublik Deutschland in der Koalition mit Bundeskanzlerin Angela Merkel. Er war auch Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei (SPD). Derzeit ist Gabriel Vorsitzender der Atlantik-Brücke e.V., Mitglied der Trilateralen Kommission und Vorstandsmitglied des European Council on Foreign Relations und der International Crisis Group. Als Politikberater der Eurasia Group setzt er sein Engagement in außenpolitischen Diskussionen und Publikationen fort. Seit Juli 2022 ist er Honorarprofessor an der Universität Bonn.