Nichts zu verbergen? Darum geht es nicht

Wäre es nicht wunderbar, wenn wir uns keinerlei Gedanken über unsere Privatsphäre machen müssten? Dieses verführerische Argument spricht unser unschuldiges Selbst an – eine Sorge weniger. Doch wenn man nichts zu verbergen hat, wo liegt dann das Problem? Genau darin: Die Unschuld, die ausgenutzt wird. Unsere Daten gehören uns, sie sind eines der wertvollsten Dinge, die wir besitzen. Warum sonst würden so viele Menschen enorme Anstrengungen unternehmen, um sie zu erlangen?
Während wir die Vorzüge von E-Commerce, Streaming und Informationen auf Knopfdruck genießen, erkennen wir die Schattenseiten von Doomscrolling, Deepfakes und Polarisierung. Es gibt tatsächlich unterschiedliche rechtliche und gesellschaftliche Traditionen rund um das Konzept der Privatsphäre, sodass wir uns nicht immer darüber einig sind, was sie bedeutet. Dennoch müssen wir alle die Risiken verstehen, die mit der Preisgabe unserer Daten verbunden sind, und diese beherrschen, um eine digitale Zukunft zu sichern, in deren Mittelpunkt der Mensch steht.
Die Stimmen des Volkes
Wenn Persönlichkeiten wie Mark Zuckerberg behaupten, dass die Privatsphäre tot sei, entspricht das den Bedürfnissen seines Unternehmens. Zyniker stimmen ihm zu und geben einfach auf. Der Science-Fiction-Roman "Der Circle" von Dave Eggers stellt sich diese Kapitulation vor: Die Welt unterwirft sich der Tyrannei eines fiktiven Unternehmens aus dem Silicon Valley, einer Mischung aus Google und Facebook, das rücksichtslose Transparenz an den Tag legt und Regierungen sowie Menschen in einer hoffnungslosen, fremdgesteuerten Zukunft beinahe zu Sklaven macht. Solche Narrative nähren die übervorsichtigen Menschen, die alle Cookies ablehnen, "Alexa" nicht laut aussprechen oder sich gar nicht erst mit dem Internet beschäftigen wollen.
Doch wir müssen nicht in Angst leben und sollten auch nicht glauben, dass soziale Medien und andere digitale Unternehmen am besten dort gedeihen, wo es keine Regeln gibt. Neben den Leichtsinnigen, den Zynikern und den Vorsichtigen gibt es auch die pragmatischen und umsichtigen Nutzer. Sie sind sich der Nachteile bewusst, die die Weitergabe ihrer Daten mit sich bringt, und übernehmen Verantwortung für ihre eigene Privatsphäre, indem sie sich aktiv an Diskussionen über die öffentliche Politik zu deren bestmöglichem Schutz beteiligen.
Öffentliche Politik und Privatleben
Auch hier gibt es unterschiedliche Haltungen. Unterschiedliche Rechtstraditionen, die jeweils von der Geschichte geprägt sind, in der sie entstanden sind, führen dazu, dass Länder dieses Thema von verschiedenen Ausgangspunkten aus angehen. Auch wenn das Wort "privat" auf römische Vorstellungen von Öffentlichkeit und Privatheit zurückgeht, lässt sich die von den meisten modernen Demokratien geteilte Auffassung in der pragmatischen Formulierung aus den USA des 19. Jahrhunderts zusammenfassen: "das Recht, in Ruhe gelassen zu werden". Dies bedeutet, dass die Privatsphäre frei von jeglicher Einmischung von außen ist, von Regierungen bis hin zu Unternehmen.
Einfach, aber dennoch anders gelebt. Länder, die einst autoritäre Regime erlebten, die jeden Aspekt des Lebens der Menschen ausspionierten, haben heute in der Regel sehr starke Strukturen zum Schutz personenbezogener Daten. Deutschland zum Beispiel nimmt dies sehr ernst, da seine Geschichte von zwei der dunkelsten Episoden staatlich geförderter Verletzungen der Privatsphäre geprägt ist: dem Naziregime und der Deutschen Demokratischen Republik im ehemaligen Ostdeutschland.
In den USA hingegen, wo die Wirtschaft traditionell durch laxe Vorschriften gefördert wird, hat es länger gedauert, bis man dort von der Notwendigkeit eines besseren Datenschutzes überzeugt war. Doch auch dort wendet sich das Blatt dramatisch, insbesondere mit dem Regierungswechsel. Inzwischen haben viele Bundesstaaten weitreichende Datenschutzgesetze erlassen oder sind dabei, dies zu tun, und die öffentliche Diskussion über ein Verbot von TikTok in den USA entstand aus der Besorgnis über die dort gesammelten Informationen.
Datenschutz: lebendig und gut
Autoritäre Regime lassen diese Diskussion einfach nicht zu und verlangen sogar, dass Unternehmen Nutzerdaten an den Staat weitergeben. Sie setzen Privatsphäre oft mit Misstrauen, Geheimniskrämerei oder Egoismus gleich. Ein guter Bürger hat nichts zu verbergen. Vertraute Worte. Ganze Bücherregale sind zudem gefüllt mit philosophischen Diskussionen aus allen politischen Richtungen darüber, ob die Privatsphäre kulturspezifisch und damit irgendwie trivial und manchmal sogar gefährlich sei. Schließlich behaupten auch häusliche Gewalttäter gerne, dass das, was in ihrem Haus vor sich geht, privat ist.
Das sind alles extreme Ansichten, die als einfache Lösungen getarnt sind. Angelegenheiten wie unsere Gesundheit, unser Liebesleben, unsere politischen Ansichten, unsere finanzielle Situation und sogar, was wir im Urlaub gemacht haben, sind privat, Punkt. Wir können uns dafür entscheiden, diese Dinge mitzuteilen, aber wir sollten uns niemals dazu verleiten oder zwingen lassen. Schon lange vor den sozialen Medien haben wir zu oft gesehen, wie diese Informationen genutzt und ausgenutzt werden, von einfach nur lästiger Werbung bis hin zu Mobbing und Schlimmerem. Heute werden wir besonders von der Polarisierung geplagt, die von Algorithmen angetrieben wird, die uns in Echokammern mit extremen Inhalten und Verschwörungen einhüllen.
Von TikTok bis Facebook - wir lieben diese Plattformen, weil wir uns mit anderen austauschen können und sogar Inhalte und Produkte angeboten bekommen, die uns gefallen. Wir verstehen auch, dass die Behörden für die Sicherheit unserer Gesellschaft manchmal eine Erlaubnis brauchen, um echtes kriminelles Verhalten über das Internet aufzuspüren. Um KI zu trainieren, wird es außerdem wichtig sein, mehr persönliche Informationen preiszugeben, damit sie richtig funktioniert und uns hilft, bessere Entscheidungen zu treffen. Daher liegt die Nutzung dieser Vorteile irgendwo in der Mitte zwischen der völligen Preisgabe – aus welchen Gründen auch immer – und dem völligen Entzug, wobei zu definieren ist, was "einige Daten" sind und warum wir sie teilen müssen.
Das Leben der anderen - und unser eigenes Leben
Letztlich liegt die Lösung in Transparenz und Wahlmöglichkeiten. Sie beginnt bereits auf der Ebene des Einzelnen. Regierungen und private Unternehmen sollten ihre beabsichtigte Verwendung personenbezogener Daten transparent machen. Wirklich transparent, auf eine verständliche Art und Weise. Der Einzelne sollte dann die Wahl haben, zu sagen, ob seine Daten verwendet werden dürfen. Wir alle sind mündige Bürger, die die Hoheit über sich selbst haben. Neben der Transparenz von Regierungen und Unternehmen müssen wir uns also selbst mehr über die Auswirkungen des Datenschutzes informieren, insbesondere unsere Kinder, die in der digitalen Welt immer noch nur das Gute sehen.
Und dann ist da noch die gesellschaftliche Ebene. Weite Teile unserer polarisierten Gesellschaften auf der ganzen Welt haben ein historisch niedriges Maß an Vertrauen in die Regierungen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir sie bei der Verabschiedung strenger Datenschutzgesetze und deren Umsetzung unterstützen. Darüber hinaus verkörpern Gesetze wie das KI-Gesetz der EU die gleichen Grundsätze der Souveränität über unsere eigenen Daten.
Und diese Gesetzgebung muss ernst genommen werden. Regierungen, Unternehmen und andere Organisationen müssen diese Maßnahmen und die ihnen zugrunde liegenden Prinzipien so schnell wie möglich umsetzen. Sie müssen uns als Bürger eine echte Wahlmöglichkeit bieten, d.h. Dienste sollten auch mit eingeschränkten, pseudonymisierten oder anonymisierten Daten verfügbar sein, wenn auch in eingeschränkter Form. Schließlich muss die Datenverarbeitung fair sein und immer die Grundrechte des Einzelnen respektieren, wenn er nicht aufgrund seines Geschlechts, seiner politischen Meinung, seiner Ethnie, seiner sexuellen Orientierung, seiner Behinderung usw. diskriminiert werden darf und seine Rechte auf Datenzugang, Berichtigung, Übertragung oder Löschung wahrnehmen kann.
Über diese Maßnahmen hinaus müssen Unternehmen wie die Allianz unsere Stimme erheben und öffentlich Stellung beziehen. Wir müssen enger zusammenarbeiten und eine stärkere gemeinsame Haltung zu verantwortungsvoller KI und ethischem Datenmanagement einnehmen. Diese Zusammenarbeit wird für uns in Zukunft entscheidend sein, um sicherzustellen, dass die Menschen fair und menschlich behandelt werden.
Warum sollten wir dem Staat vertrauen? Warum sollten wir dem privaten Sektor vertrauen? Warum sollten wir uns gegenseitig vertrauen? Warum sollten wir "zusammenkommen", wenn es doch darum geht, dass jeder von uns seine eigene Privatsphäre schützt? Weil wir als Einzelne nur sehr wenig tun können. Es ist die Kraft der Einheit, die uns am meisten schützen wird. Wir können nicht als Gesellschaft funktionieren, in der sich jeder aus Angst abschottet oder in der wir alle der Tyrannei derjenigen ausgesetzt sind, die unsere Daten missbrauchen oder uns und alle anderen ausspionieren wollen.
Nur wenn wir uns auf diese gemeinsame Grundlage einigen, können wir sicherstellen, dass die Privatsphäre eines jeden von uns gleichermaßen geschützt ist und wir die grenzenlosen Vorteile der Digitalisierung genießen können.
More news
About Allianz
** As of December 31, 2024.