Haben wir wirklich ein weltweites Problem mit der Ungleichheit?
Michael Heise: Nein, global gesehen nimmt die Ungleichheit glücklicherweise ab. Im Hinblick auf das Vermögen ist die Mittelschicht in den vergangenen 13 Jahren um 500 Millionen Menschen gewachsen, vor allem auf den asiatischen Märkten. Laut den Vereinten Nationen wird die Mittelschicht als Menschen mit Brutto-Geldvermögen zwischen 5.800 und 33.000 US-Dollar bezeichnet. Dass der Wohlstand zugenommen hat, müssen wir bei der Diskussion um das Thema Ungleichheit auch berücksichtigen.
Mohamed A. El-Erian: Wir stehen hier vor einem interessanten Gegensatz. In vielen Entwicklungsländern, insbesondere in China, konnten sich Millionen und Abermillionen von Menschen aus der Armut befreien. Global gesehen ist die Ungleichheit zurückgegangen, vor allem weil sich die einzelnen Länder am unteren Ende der Wohlstandsskala einander angenähert haben. Und das ist gut so. Untersucht man jedoch die Ungleichheit in einzelnen Ländern, ergibt sich ein unterschiedliches Bild. Ob in den USA, Brasilien oder China: Überall haben Einkommen und finanzielle Ungleichheit zugenommen und zwar so deutlich, dass sich dieses Phänomen mittlerweile auf die Chancengleichheit auswirkt. Sobald man beginnt, über Chancen zu sprechen, wird das Problem weitaus ernster und schwieriger zu lösen. Global ist die Ungleichheit zurückgegangen, national jedoch auf ein besorgniserregendes Maß angestiegen.
Warum muss sich die Gesellschaft mit diesem Problem auseinandersetzen?
Heise: Wir müssen uns mit diesem Problem auseinandersetzen, denn es geht hier um den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Sowohl für Industriestaaten als auch für Entwicklungsländer besteht hier eine Gefahr. In jüngster Zeit haben wir soziale Unruhen und Konflikte erlebt, in denen Armut eine wichtige Rolle spielte.
El-Erian: Das Thema hat sich von einem moralisch-ethischen hin zu einem politischen entwickelt und bedroht das wirtschaftliche Wohl. In der Zwischenzeit haben sich die Treiber von Ungleichheit erweitert und umfassen jetzt zyklische sowie strukturelle und säkulare Faktoren. Und das Ergebnis weckt Aufmerksamkeit. Laut den jüngsten Daten der US-Notenbank haben von allen schrittweisen Einkommenserhöhungen der letzten Jahre in den USA lediglich die obersten drei Prozent der Bevölkerung profitiert.