Arm und Reich: Bestehen in den Gesellschaften auf den verschiedenen Kontinenten Unterschiede was Ungleichheit angeht? Können wir uns Europa und die Vereinigten Staaten genauer ansehen?
Heise: Ja, es bestehen Unterschiede zwischen den Gesellschaften und es gibt keine Patentlösungen. Man kann nicht einfach nur die Reichen besteuern und den Armen geben. In den meisten Teilen Europas haben wir aktuell mit enormer Arbeitslosigkeit zu kämpfen. Alles nur Mögliche muss dagegen getan werden. Um Ungleichheit, um Armut zu vermeiden, ist eine gute Ausbildung die beste politische Strategie. Menschen, die ihre Qualifikationen und ihre Kenntnisse verbessern können, haben bessere Chancen auf gut bezahlte Arbeitsplätze. Meiner Ansicht nach müssen wir uns darum in den USA und in Europa kümmern. In Deutschland und anderen europäischen Ländern müssen wir uns auch die Steuersätze von einkommensschwachen Menschen ansehen. Die Grenzsteuersätze liegen hier ziemlich hoch, das bedeutet, dass ein hoher Teil der Einkommen von Menschen, die auch nur ein kleines bisschen vorankommen, hoch besteuert wird oder auf die Sozialversicherung entfällt.
El-Erian: Innovation belohnt Menschen und die Gesellschaft an sich. Bemerkenswert ist, dass wir zunehmend in einer Welt leben, in der bei Innovationen die Gewinner alles für sich beanspruchen können. Denken Sie nur an eine Killer App. Wenn Sie etwas erfinden, das Millionen von Menschen weltweit nützt, winken erhebliche Prämien. Solche Menschen werden zu Millionären oder gar Milliardären. Und daran will man auch gar nicht allzu stark rütteln, denn es geht hier um Veränderungen, die vielen Menschen zugutekommen. Das bedeutet, ein bisschen Ungleichheit ist gut in einem marktwirtschaftlichen System, weil es die Innovationskraft fördert und die Menschen dazu animiert, sich auszuzeichnen und hart zu arbeiten. Ein Problem besteht dann, wenn es zu viel Ungleichheit gibt. Und heutzutage wird dieses Problem durch die unvollkommenen politischen Reaktionen auf die schrecklichen Folgen der globalen und europäischen Krisen noch verstärkt.
Die einzigen politischen Entscheidungsträger, die aktuell konsequent handeln, sind die Zentralbanken. Aber ihnen stehen für die gegenwärtigen Herausforderungen die nötigen Instrumente nur zum Teil zur Verfügung. Und manche ihrer Reaktionen verschlimmern die Ungleichheit noch, nicht etwa weil dies das Ziel wäre; vielmehr sind es unbeabsichtigte Konsequenzen auf dem Weg hin zu breiter angelegten wirtschaftlichen Verbesserungen. Das können Sie in den Vereinigten Staaten ganz gut verfolgen. Auf der Wall Street verzeichnet man einen Rekord nach dem anderen, doch auf der Main Street, das heißt in der Bevölkerung an sich, gibt es noch keine spürbaren Erfolge.
Am schlimmsten ist es, wenn dies nicht nur zu Ungleichheit bei den Einkommen und Vermögen führt, sondern auch noch ein dritter Faktor hinzukommt: die fehlende Chancengleichheit. Denn sobald Ungleichheit und Chancen aufeinandertreffen, laufen wir Gefahr eine ganze Generation zu verlieren. Die hohe Jugendarbeitslosigkeit ist ein Beispiel. Wenn Sie in jungen Jahren eine lange Zeit keine Beschäftigung haben, dann riskieren Sie statt arbeitslos schlichtweg unvermittelbar zu werden.
Heise: Die Geldpolitik verstärkt das Problem der Ungleichheit definitiv. Nicht nur in den USA, die gerade einen Asset-Boom verzeichnen, sondern auch in Deutschland. Ganze 40 Prozent des deutschen Finanzvermögens entfallen auf Bankeinlagen und Sparkonten, die keine Erträge mehr erwirtschaften. Die vermögenderen Bevölkerungsschichten haben Aktien und Versicherungen, die Armen machen mit ihren Ersparnissen Verluste. Insgesamt sind die Zinserträge in Deutschland ca. zehn Milliarden Euro niedriger pro Jahr als noch vor der Krise.
Oder müssen wir uns Asien genauer ansehen?
El-Erian: Die Hoffnung besteht, dass China den schwierigen Übergang zu mittleren Einkommen erfolgreich meistert. In der vergangenen Zeit ist dies nur fünf Ländern gelungen. Und das waren kleine Länder, die weder die interne Komplexität noch die systemische Relevanz von China aufweisen. In Indien ist Armut nach wie vor ein Problem. Dennoch, insgesamt gesehen können die Regierungen in den östlichen Teilen Asiens das Problem mit der Ungleichheit noch bewältigen und sie machen dabei Fortschritte.
Wenn Sie sich aber die westlichen Teile Asiens ansehen, dann bildet die Ungleichheit einen Nährboden für jede Menge Radikalismus und Fundamentalismus. Dort hat Ungleichheit nämlich zu dem Erstarken von nichtstaatlichen Akteuren geführt, die zu großer Destabilisierung führen. Vieles davon hat mit der Auffassung zu tun, dass das System nur einigen wenigen Privilegierten dient. Sie sehen also, dass die Lage in ganz Asien sehr unterschiedlich ist, und deshalb gibt es auch keine Musterlösung.
Heise: Die chinesische Führung ist bemüht, diese Transformation zu steuern, und einige der Pläne sind meiner Ansicht nach recht vernünftig, nämlich der Aufbau eines Sozialversicherungssystems, das sich besonders an die einkommensschwächeren Bevölkerungsschichten richtet und viele Haushalte in China von der Last befreit, selbst für sich vorsorgen zu müssen. Die Verbesserung des Sozialversicherungssystems, insbesondere im Bereich Gesundheit, würde einen wichtigen Beitrag für mehr Gerechtigkeit leisten, aber auch für den Übergang der Wirtschaft zu einem stärker verbrauchsgetriebenen Wachstumsmodell. Die Liberalisierung der Finanzmärkte und die Zinsfreigabe sind eine Möglichkeit die Situation auch für Haushalte mit niedrigeren Einkommen zu verbessern - das heißt für die kleinen Sparer.