Wie die Mikroversicherung nach Deutschland kam

Als der Historiker Stefan Pretzlik die Archive der Allianz durchstöberte, machte er eine unerwartete Entdeckung: die Allianz führte die Mikroversicherung in Deutschland schon sehr früh ein – im Jahr 1926.

Allianz.com: Mikroversicherung bezieht sich normalerweise auf kleine Versicherungspolicen für einkommensschwache Bevölkerungsschichten in Entwicklungsländern. Sie haben festgestellt, dass die Allianz bereits im Jahr 1926 die Mikroversicherung in Deutschland eingeführt hat. Wie kam es dazu?

 
Stefan Pretzlik : Vor den 1920er Jahren war die Lebensversicherung in Deutschland nur etwas für wohlhabende Menschen. Das hat sich vor dem Hintergrund der Demokratisierung und dem zunehmenden Rationalisierungsprozess nach dem ersten Weltkrieg geändert. Das Ergebnis war eine breitere politische, soziale und wirtschaftliche Beteiligung der einkommensschwächeren Bevölkerungsgruppen. Die Allianz wollte die Chancen, die sich durch diese neue Verbrauchergruppe ergaben, nutzen. Modernste Technologien, wie zum Beispiel Lochkartenleser, ermöglichten der Allianz, dies auf kosteneffiziente Weise zu tun. 1926 führte die Allianz eine neue Geschäftssparte, die sogenannte „Kleine Lebensversicherung“, ein. Der Begriff „Mikroversicherung“ war damals noch nicht gebräuchlich. Der Leitspruch war jedoch im Wesentliche derselbe: „Schützen Sie sich für nur ein paar Pfennig am Tag“. Die Kunden wurden dazu ermutigt, jeden Tag ihre übrigen Pfennige in ein von der Allianz bereitgestelltes Sparschwein zu werfen. So konnten die Kunden für ihre Prämien, die jeweils am Ende des Monats fällig waren, sparen. Zunächst wurde nur eine Sterbegeldversicherung mit einer Deckung von ein paar hundert Euro angeboten.
 

War das Modell erfolgreich?

 
Ja. Mittel- und Langfristig gesehen war das Modell extrem erfolgreich. Zumindest was die Lebensversicherung betrifft. Als nach dem zweiten Weltkrieg ähnliche Bestrebungen im Bereich Schaden- und Unfallversicherung initiiert wurden, schlugen diese fehl und wurde später gänzlich aufgegeben. Aber auch im Bereich Leben hatte das deutsche Mikroversicherungsmodell mit einigen Anfangsschwierigkeiten zu kämpfen. Mehrere Male war die Geschäftsführung der Allianz kurz davor, die Initiative zu beenden. Ein erster Durchbruch gelang, als die kleine Lebensversicherung sich von dem negativ wahrgenommenen Sterbegeldversicherungsangebot distanzierte. Das Marketing und die Produkte konzentrierten sich stattdessen zunehmend auf eine positive Zukunft wie Ausbildungsversicherung und – insbesondere für junge Frauen – Aussteuerversicherung.
 
Ihren wirklichen Höhepunkt erlebte die kleine Lebensversicherung mit dem Beginn des deutschen Wirtschaftswunders Anfang der 1950er Jahre. Arbeiter und Angestellte kamen in den Genuss stetig wachsender Löhne und wollten ihren neu gewonnenen Reichtum, der im Vergleich zu heutigen Verhältnissen doch recht bescheiden ausfiel, schützen. Bis 1960 verzeichnete die kleine Lebensversicherung bereits über 1,5 Millionen Kunden.
 
Kurz darauf zeichnete sich jedoch langsam der Niedergang der kleinen Lebensversicherung ab. Die innovative Geschäftssparte hatte im Grunde genommen ihre Aufgabe, viele neue Kunden für die Allianz zu gewinnen, erfolgreich realisiert. Im Zuge der zunehmenden Verbesserung ihres Lebensstandards wechselten diese Kunden nun zu komplexeren Produkten mit höheren Versicherungssummen. Ab 1967 wurde für kleine Lebensversicherungsprodukte kein Neugeschäft mehr getätigt.
Ab 1949 konnten Allianzkunden ihre gewünschte Versicherung innerhalb von wenigen Minuten beantragen. Ermöglicht wurde dies durch die Blockpolice, ein einseitiges Anmeldeformular auf einem Papierblock.
Ab 1949 konnten Allianzkunden ihre gewünschte Versicherung innerhalb von wenigen Minuten beantragen. Ermöglicht wurde dies durch die Blockpolice, ein einseitiges Anmeldeformular auf einem Papierblock.
Stefan Pretzlik erforscht als Historiker das Firmenarchiv der Allianz. Bei seinen Recherchen fand er heraus, dass die Allianz schon 1926 „kleine Lebensversicherungen“ anbot.
Stefan Pretzlik erforscht als Historiker das Firmenarchiv der Allianz. Bei seinen Recherchen fand er heraus, dass die Allianz schon 1926 „kleine Lebensversicherungen“ anbot.

Wie ging es mit der Mikroversicherung im Bereich Schaden und Unfall weiter?


1949 animierte der Erfolg der kleinen Lebensversicherung die Allianz dazu, einfache Schaden- und Unfallversicherungsprodukte wie Feuer-, Unfall- und Haftpflichtversicherung einzuführen. Außerdem wurde ein innovativer Ansatz zur Verringerung der Transaktionskosten entwickelt: Die Anmeldeformulare passten auf nur ein Blatt Papier, das ganz unkompliziert von einem Block mit Antragsformularen abgerissen werden konnte. Dadurch konnte die Zeit zur Registrierung von Neukunden auf ein paar Minuten reduziert werden. Dem Erfolg der sogenannten Blockpolicen stand jedoch ein internes Hindernis gegenüber: Die angebotenen Produkte wurden von verschiedenen und voneinander relativ unabhängigen Abteilungen innerhalb des Unternehmens verwaltet. Ein hohes Maß an Silo-Mentalität zwischen den verschiedenen involvierten Geschäftssparten – Feuer-, Glas-, Unfallversicherung usw. – blockierte den Erfolgskurs. Während jeder versuchte, sein eigenes Interesse zu wahren, litt die Effizienz des Kundendiensts. Daher konnte die Blockpolicen nie an den Erfolg ihrer kleinen Cousine, der kleinen Lebensversicherung, anknüpfen. Die kleine Lebensversicherung hatte den Vorteil, sozusagen von einem „einzigen Silo“ verwaltet zu werden, der Allianz Lebensversicherungsgesellschaft.

Heute bedient die Allianz unter dem Begriff „Mikroversicherung“ oder dem neueren Terminus „Emerging Consumers“ wieder einkommensschwache Familien in Schwellen- und Entwicklungsländern. Was können wir aus der Vergangenheit lernen?


Erstens, man benötigt viel Stehvermögen. In den 1920ern und 1930ern testete die Allianz verschiedene Ansätze und lernte aus ihren Fehlern. Dieses Durchhaltevermögen hat sich für die Allianz vollends ausgezahlt. Zweitens, man muss die Kundenorientierung an erste Stelle setzen. Die Entwicklung der Blockpolice, zum Beispiel, wurde durch interne strukturelle Defizite erheblich behindert. Und zu guter Letzt, Technologie und effiziente Prozessgestaltung waren die Hauptwegbereiter für die Allianz im Hinblick auf die frühen Anstrengungen im Bereich Mikroversicherung. Da diese drei Voraussetzungen gegeben waren, konnte die Allianz Millionen neuer Kunden gewinnen und sich ihre Loyalität für viele Jahrzehnte sichern. In Deutschland hat sich dies für die Allianz bewährt. Warum sollte es also nicht auch in den heutigen Entwicklungsländern funktionieren?

Diese Aussagen stehen, wie immer, unter unserem Vorbehalt bei Zukunftsaussagen:

 

Petra Brandes
Allianz SE
Tel.: +49.89.3800-18797
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