Tom Wilson: "Risikomanagement ist eine Kultur, kein Kult"

In den letzten 10 oder 20 Jahren hat man viel über den Kult des Risikomanagements geredet....

Tom Wilson: Risikomanagement ist eine Kultur, kein Kult. Es funktioniert nur, wenn jeder sie auch wirklich lebt und nicht, wenn sie von ein paar hohen Priestern praktiziert wird.

 

Wie meinen Sie das?

Das Prinzip ist einfach. Letztendlich ist es das operative Geschäft, das sowohl die Verantwortung für Risiken trägt als auch von den Chancen profitiert; und an dieser Stelle muss die Risikokultur ansetzen. Schließlich kann kein Risiko-Controlling- oder Risiko-Reporting-Aufwand die negativen Auswirkungen eines dürftig gezeichneten Geschäfts oder eines schlecht konzipierten Lebensversicherungsprodukts ausgleichen.

Ein unabhängiges Risikomanagement und der Chief Risk Officer tragen als Partner des Unternehmens erheblich zur Verbreitung dieser Kultur bei, die sicherstellen soll, dass das Geschäft solide bleibt, und zwar jeden Tag. Als Unternhemen schöpfen wir Wert, indem wir preisgünstige, gut strukturierte und gut verwaltete Risken übernehmen. Heute erkennen immer mehr Firmen, dass der Chief Risk Officer nicht einfach nur ein Controller ist, der Daten zusammenträgt und sie dann an das Top-Management und die Ratingagenturen berichtet.

 

Aber sind Sie nicht auch für das Reporting verantwortlich?

Natürlich, Reporting ist ein wesentlicher Teil meiner Arbeit. Wir müssen uns unserer Risiken bewusst sein und sie allen transparent machen. Wie sonst können Manager Entscheidungen treffen oder Kunden wissen, ob wir in 10 oder 20 Jahren noch hinter unseren Produkten stehen können?

Aber zum Risikomanagement gehört viel mehr als Reporting und Controlling – es geht um die praktische Umsetzung ins Tagesgeschäft. Das Risikomanagement ist z.B. an der Produktentwicklung und -freigabe sowie bei der Festlegung von Zeichnungsrichtlinien involviert, was dafür sorgt, dass wir das Geschäft abschließen, das wir als Unternehmen auch wollen.

Außerdem halten wir auch nach den sogenannten "Tall Trees" Ausschau...

 

"Tall Trees"? Wie hohe Bäume? Was ist damit gemeint?

Das sind die wirklich großen Risiken, die das Unternehmen trägt. Einige Beispiele sind der Wertverlust aufgrund fallender Zinssätze für langfristige Sparprodukte, ein schweres Erdbeben in Kalifornien oder ein Sturm in Europa – das sind alles typische "Tall Trees" für globale Versicherer. Man muss sicherstellen, dass diese Risiken identifiziert und für das Management transparent sind und sich innerhalb der vom Vorstand festgesetzten Risikotoleranz bewegen.

 

Haben Sie ein Beispiel dafür, wie diese Kultur in der Allianz gelebt wird?

Ein ganz einfaches sind die Obergrenzen für Naturkatastrophen. Erst- oder Rückversicherer haben ein Auge auf wahrscheinliche Höchstschäden oder Modellschäden bei Naturkatastrophen. Wenn man wirklich zahlungsfähig bleiben will, müssen die Schäden irgendwo gedeckelt sein. Sie brauchen ein internes Limit. Das bedeutet, eine Aussage darüber zu treffen, wieviel wir decken und für alles, was darüber hinaus geht, Rückversicherungsdeckung vorzusehen oder bestimmte Risiken ganz einfach nicht zu zeichnen. Zudem müssen wir sicherstellen, dass wir für die Übernahme dieser Risiken entschädigt werden, indem wir die risikobereinigten Erträge oder die Schaden-Kosten-Quote für das Geschäft betrachten.

 

Was ist mit den Finanzmarktrisiken?

Das gilt genauso für Finanzmarktrisiken, wie z.B. unser Risiko bezüglich Zinssätzen. Diese Risiken müssen ebenfalls transparent sein, innerhalb einer sicheren Höchstgrenze verwaltet und schließlich angemessen entschädigt werden. Dies ist in dem derzeitigen Umfeld mit niedrigen Zinsen und turbulenteren Märkten eine schwierigere Aufgabe. Dennoch müssen wir im Interesse aller Beteiligten dafür Sorge tragen: Es stimmt durchaus, dass der Kurs der Allianz-Aktie sich relativ ähnlich zur Entwicklung an den Finanzmärkten entwickelt ...

Wenn es keine Risikomanagement-Kultur gibt, wird das Unternehmen diesen simplen Gedankengang nicht akzeptieren.

 

Ist das nur bei der Allianz so?

Sie finden das generell in der Versicherungsbranche, auf jeden Fall jedoch, wenn das Unternehmen über eine solide Risikokultur verfügt, die auf Zeichnungsdisziplin beruht. Es ist in der Assekuranz sicherlich verbreiteter als im Bankwesen. Versicherer verlassen sich nicht darauf, dass die Risiken, die wir heute in unsere Bücher schreiben, jederzeit zu einem vernünftigen Preis veräußert oder abgesichert werden können.

In der Versicherungswirtschaft müssen wir langfristig denken, denn wir zeichnen langfristige Risiken, die weder abgesichert noch gehandelt werden können. Folglich ist das heute abgeschlossene Geschäft das Erbe, das wir der nächsten Managergeneration hinterlassen. Wir können nicht kurzfristig planen.

Ich ziehe es vor, ein gutes Erbe zu hinterlassen, das sich auf eine solide Risikoeinschätzung und gute Verwaltung stützt. Jeder in einem Unternehmen mit einer ausgeprägten Risikokultur wird denselben Ansatz pflegen.

 

Sie haben die Krise 2008 überstanden. Welchen Herausforderungen sehen Sie sich jetzt gegenüber?

Die meisten Leute würde vermutlich den Klimawandel und die aktuelle Finanzkrise nennen. Damit haben Sie sicherlich insofern Recht, als diese Bereiche eine Menge Unsicherheit schaffen. So können wir momentan z.B. nicht sagen, welche langfristigen Auswirkungen der Klimawandel auf Naturkatastrophen haben wird, sondern nur feststellen, dass er stattfindet, aber diese Unsicherheit müssen wir in unsere Berechnung miteinbeziehen.

Die Turbulenzen am Finanzmarkt haben 2008 ganz offensichtlich nicht aufgehört. Wir erleben seitdem ein ständiges Auf und Ab - fast eine Achterbahn - da Zentralbanken und Politik verschiedene Maßnahmen ausprobiert haben, um den weltweiten Schuldenabbau in einer Weise zu unterstützen, die nicht zu einem unnötigen Abflauen der Konjunktur führt. Angesichts der Berg- und Talfahrt der vergangenen zwei Jahre stellt sich auch weiterhin die Frage, "Was kommt als nächstes?". Sind wir allmählich auf dem Weg zu stabilerem Wirtschaftswachstum, oder erwartet uns eine weitere Vertrauenskrise, der wir die Stirn bieten müssen? Das ist im Augenblick wirklich schwer vorherzusehen. Die Eurozone stabilisiert sich gerade, aber die Schulden sind noch lange nicht abgebaut, und das Wachstum ist gering.

 

Was gibt es sonst noch für Schwerpunkte?

Darüber hinaus gibt es Risiken, die gerade erst auftauchen in Zusammenhang mit Entwicklungen wie der Nanotechnologie und gentechnischen Veränderungen. Sie scheinen unschädlich zu sein, aber wir verfügen noch nicht über ausreichend Erfahrung, um behaupten zu können, dass sie sicher sind; und jeder Leser der beliebten Romane von Michael Crichton hat allen Grund zur Beunruhigung.

Sollten wir Haftpflichtdeckung für Unternehmen aus diesem Sektor anbieten? Lauern da möglicherweise irgendwo Ansprüche, vergleichbar mit denen bei Asbest? Wir kennen die ultimative Antwort nicht und müssen somit vorsichtig zeichnen und diesem unbekannten Risiko auf der Spur bleiben.

 

Sind es also schwierige Zeiten?

Alle Zeiten sind schwierig. Das ist das Wesen der Risikomanagement-Kultur. Sie zu leben, bedeutet, unser Geschäft so zu führen, dass man sich nicht nur mit den aktuellen spezifischen Problemen beschäftigt, sondern auch mit den Risiken, denen es ein Jahrzehnt oder mehr ausgesetzt sein wird. Darum kümmern sich meine Kollegen und ich jeden Tag. Und das ist es, was die Allianz zu einem starken, verlässlichen Partner macht, und zwar nicht nur heute, sondern auch noch in 20 Jahren.

Tom Wilson, der Chief Risk Officer der Allianz
Tom Wilson, der Chief Risk Officer der Allianz

Diese Aussagen stehen, wie immer, unter unserem Vorbehalt bei Zukunftsaussagen

Stefanie Rupp-Menedetter
Allianz SE
Tel. +49.89.3800-2063
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