Vom Finanzmarktführer zur Reindustrialisierung

Die Konsequenzen eines Ausstiegs Großbritanniens aus der EU hätten für beide Seiten schwerwiegende Folgen. Angefangen bei Einbußen der Wettbewerbsfähigkeit britischer Produkte in Folge einer eintretenden Reindustrialisierung bis hin zum Stellenabbau. Ana Boata, Wirtschaftswissenschaftlerin bei Euler Hermes, erklärt, welche Auswirkungen ein Brexit auf Großbritannien und die EU hätte.

 

Ist ein Austritt Großbritanniens aus der EU eine glaubhafte Bedrohung für die Wirtschaftsbeziehungen?
 
Kurzfristig ist die größte Auswirkung vor dem Referendum die zunehmende Unsicherheit innerhalb der Geschäftswelt. Dadurch wird die Stimmungslage beeinträchtigt und Unternehmen zögern bei ihren Investitionsentscheidungen. Wir erwarten, dass das BIP-Wachstum im Jahr 2016 auf +2,1 Prozent zurückgeht (-0,1 Prozentpunkte unterhalb der ursprünglichen Prognose) und im Jahr 2017 auf +1,9 Prozent sinkt. Die Unsicherheit wird auch nach dem Referendum bestehen bleiben. Insbesondere dann, wenn sich die britischen Wähler für einen Ausstieg aus der EU entscheiden.

 
Wie werden sich Ihrer Meinung nach die Auswirkungen auf die britische Wirtschaft vor dem Referendum gestalten und, was noch wichtiger ist, nachdem Großbritannien für einen Ausstieg aus der EU gestimmt hat?

 
Der Ausstieg würde gemäß dem Vertrag von Lissabon geregelt werden, den Großbritannien unterzeichnet hat. Die Verhandlungen könnten sich bis zu zwei Jahre hinziehen. Falls Großbritannien die EU verlässt, ohne ein Freihandelsabkommen zu verhandeln, könnten sich die Verluste bei den britischen Exporten auf 30 Milliarden GBP belaufen. Davon wäre dann der Handel mit Deutschland, den Niederlanden, Frankreich, Irland und Belgien betroffen. Auch wenn sich der Handel mit den Ländern des Commonwealth erholt, könnte es bis zu zehn Jahre dauern, eine entstehende Lücke zu schließen. Ausländische Investitionen könnten in den ersten drei Jahren nach einer Abstimmung mit „Nein“ um bis zu 210 Milliarden GBP sinken. Am härtesten würde es den Finanzsektor treffen.

 
Könnten Sie etwas genauer ausführen, wie ein Brexit sich auf Großbritannien auswirken würde?

 
Die Liste ist lang: Rückgang der inländischen Tätigkeit, signifikant geringere Möglichkeiten für den Dienstleistungssektor, Einbußen bei der Wettbewerbsfähigkeit britischer Produkte, höhere Importkosten, Störungen bei den Lieferketten und voraussichtlich Preissteigerungen, Verluste bei der Profitabilität von Unternehmen, Verschärfung der Finanzierungsbedingungen, Verluste bei ausländischen Investitionen, sich verschlechterndes Zahlungsverhalten von Unternehmen und Zunahme der Unternehmensinsolvenzen. Ironischerweise könnte die Veränderung bei den internationalen Handelsbeziehungen Großbritanniens eine Reindustrialisierung sowie die Schaffung einer unabhängigen Lieferkette des verarbeitenden Gewerbes in Großbritannien beschleunigen. Wie lange würde das dauern? Mindestens zehn Jahre – handelt es sich auf lange Sicht um eine positive Entwicklung?

 
Wie würden sich die Auswirkungen außerhalb Großbritanniens gestalten?

 
Von einem Brexit wären auch andere Länder betroffen. Kurzfristig werden sich die negativen Auswirkungen sowie die mittelfristigen Möglichkeiten aller Voraussicht nach auf Irland, die Niederlande und Deutschland konzentrieren. Außerhalb der EU wäre der Handel mit den Vereinigten Staaten, China, der Türkei und Indien wohl am stärksten betroffen.

 
Angenommen ich bin ein Autohersteller aus Großbritannien. Worauf sollte ich mich einstellen?

 
Zuallererst ist die Branche von Bauteilen abhängig, die aus Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien importiert werden. Die Importpreise würden dann ansteigen, weil Zölle eingeführt und das britische Pfund abgewertet würden. Das führt zu einer geringeren Profitabilität. Zweitens, in Anbetracht der EU-Zölle für Importe aus Großbritannien, müsste ich mir über Einbußen hinsichtlich der Wettbewerbsfähigkeit meiner Produkte Sorgen machen. Die negativen Auswirkungen wären sogar noch höher, wenn ich im Segment der mittelfristigen Automobilexporte positioniert wäre, da diese stärker auf Preissprünge reagieren. Drittens, infolge der Preissprünge wäre ich möglicherweise zur Herabsetzung meiner Verkaufspreise gezwungen, um den Marktanteil zu sichern. Das ginge allerdings auf die Kosten der Profitabilität.

 
Zu guter Letzt wäre es in Anbetracht der Umzugskosten schwierig, in ein anderes Land in der EU zu ziehen. Daher würde ich mich möglicherweise dafür entscheiden, die Produktion in Großbritannien herunterzufahren und diese in anderen EU-Ländern wie der Slowakei, Spanien, Frankreich oder sogar der Türkei zu erhöhen. Dies hätte wiederum negative Auswirkungen auf die Arbeitsplätze in Großbritannien.
 
Inwiefern wäre ein Unternehmen betroffen, das Finanzdienstleistungen anbietet?

 
Der Brexit würde einen Anstieg der Betriebskosten und möglicherweise drastische Einschränkungen auf den Zugriff günstiger Euro-Finanzierungen über die Europäische Zentralbank bedeuten. Banken könnten nach wie vor über die Interbankmärkte oder Währungsswaps in Euro finanzieren. Die Kosten wären jedoch viel höher als derzeit mit dem Euribor. Dieser Anstieg wird voraussichtlich an den privaten Sektor weitergegeben.
 
Daher würde der Standort Großbritannien an Attraktivität verlieren. In Anbetracht der Verringerung der Größe des britischen Markts, wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch die Anzahl der Geschäftstätigkeiten zurückgehen. Vergangene Investitionen im Finanzsektor, die nicht aus der EU, sondern hauptsächlich aus den Vereinigten Staaten oder Asien stammten, wurden durch gemeinsame Verordnungen zwischen Großbritannien und der EU motiviert. Das würde sich mit einem Brexit ändern. Wir erwarten, dass gegenwärtige Finanzakteure ihren Sitz im britischen Markt in andere EU-Finanzzentren verlagern. Frankfurt, Paris und Dublin wären dabei mögliche Gewinner.
Ana Boata, Wirtschaftswissenschaftlerin bei Euler Hermes, erklärt, welche Auswirkungen ein Brexit auf Großbritannien und die EU hätte.
Ana Boata, Wirtschaftswissenschaftlerin bei Euler Hermes, erklärt, welche Auswirkungen ein Brexit auf Großbritannien und die EU hätte.

Diese Aussagen stehen, wie immer, unter unserem Vorbehalt bei Zukunftsaussagen:

 

Remi Calvet

Euler Hermes 

Phone +33 1 84 11 61 41

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