Was wären denn die wirtschaftlichen, finanziellen und (geo-)politischen Konsequenzen eines Brexit?
Michael Heise: Sowohl die EU als auch Großbritannien können aus wirtschaftlicher und politischer Sicht bei einem Brexit nur verlieren. Dies würde vielleicht nicht sofort zu einem Aufruhr an den Finanzmärkten führen, da es sich dabei um ein geordnetes Vorgehen handeln würde, die langfristigen Folgen wären jedoch erheblich. Die Rolle Londons als größtes europäisches Finanzzentrum würde ausgehöhlt werden und Investitionen in das "Eingangstor zum europäischen Festland" verlagert. Die wirtschaftlichen Auswirkungen für die EU wären vermutlich begrenzter. Länder mit langjährigen Handelsverbindungen zu Grossbritannien wie Irland, Luxemburg und Belgien litten wohl am stärksten unter einem Austritt Grossbritanniens.
Politisch betrachtet würde das Ausscheiden Großbritanniens dem Image der EU schaden und ihren Einfluss auf der internationalen Bühne schmälern. Intern könnten die Schritte der EU hin zu einer stärkeren Integration ohne die renitenten Briten einfacher werden. Der Preis dafür wäre jedoch der Verlust des Einflusses der liberalen und pragmatischen Haltung der britischen Politik.
Mohamed A. El-Erian: Ja, in der Tat müssten alle Beteiligten einen hohen Preis zahlen, insbesondere -Grossbritannien. Diese Feststellung wird vermutlich zwei Hauptreaktionen auslösen: erstens, vor dem Referendum Großbritannien bei der Zusammenarbeit mit den EU-Partnern zu unterstützen und sich im Zuge dessen auf einige Zugeständnisse zu einigen, die es der Konservativen Partei ermöglichen, sich "zum Sieger zu erklären". Somit wären sie in der Lage, sich gegenüber den Wählern für die Entscheidung zugunsten der Fortsetzung der EU-Mitgliedschaft einzusetzen. Und die zweite Hauptreaktion wäre, dass sich die Konservativen bei der Kampagne mit anderen etablierten Parteien für den Verbleib in der EU zusammenschließen. Gleichzeitig würden diese beiden Faktoren jedoch die Wahrscheinlichkeit eines Brexit erheblich verringern.
Wie können Grossbritannien und seine europäischen Partner zusammenarbeiten, um einen Brexit zu verhindern?
Michael Heise : Die EU-Kommission und - was vielleicht noch wichtiger ist - die Bundesregierung haben beide ihre Bereitschaft signalisiert, aufeinander zuzugehen und zu kooperieren. Auf der EU-Ebene wurde eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, um nach Lösungen zu suchen. Einigkeit dürfte hinsichtlich einiger Forderungen Großbritanniens nach EU-Reformen und Subsidiarität bestehen. Aber die neue Verhandlungsposition des Landes darf nicht zu weit gehen. Einem Ausscheiden aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit wird nicht zugestimmt. Aber es könnte auch mehr Rechte zur Beschränkung der Sozialleistungen an EU-Migranten geben. Es besteht zudem vielleicht die Möglichkeit, die Position nationaler Parlamente beim EU-Gesetzgebungsprozess zu stärken. Reformen, die einer Änderung der EU-Verträge bedürfen, können jedoch nicht so schnell umgesetzt werden, aber unter Umständen gibt es ein Protokoll, das Probleme im Interesse Großbritanniens regelt, wenn die EU-Verträge das nächste Mal wieder zur Verhandlung anstehen. Laut dem kürzlich erschienenen "Five Presidents' Report" könnte dies nach 2017 der Fall sein.
Mohamed A. El-Erian: Es gibt zahlreiche denkbare Zugeständnisse der EU gegenüber Grossbritannien, die dazu verwendet werden können, die Fundamente der Union zu stärken, zumindest auf rhetorischer Ebene. Langfristiger werden allerdings die fundamental unterschiedlichen Sichtweisen bestehen bleiben. Es wird also von Zeit zu Zeit notwendig sein eine Lösung zu finden, wie diese Positionen praktisch in Einklang zu bringen sind.