Achtung: Lücke

Unter finanziellem Druck überdenken Regierungen die staatliche Altersvorsorge, um Rentenlücken für zukünftige Generationen zu vermeiden. Doch die Politik muss auch eine Antwort auf die Frage nach der „Angemessenheit“ von Renteneinkommen finden.

Von Renate Finke

 

Auf den ersten Blick erscheint das Wort „Angemessenheit“ leicht verständlich.  Als angemessen oder adäquat bezeichnet der Duden etwas, was „richtig bemessen“ ist. Doch dieses scheinbar harmlose Wort verschwimmt rasch im Dunst immer komplexerer Bedeutungen. Wird „angemessen“ gar als Messlatte herangezogen, um die Bestandteile von Einkommen und Reichtum zu skizzieren und soziale Standards zu bestimmen, fällt selbst Experten eine Definition schwer und es stellt sich bald die Frage, was „richtig bemessen“ in diesem Zusammenhang bedeutet. Rund um die Frage was ein angemessenes Alterseinkommen ist, könnte sich eine der größten Kontroversen in der Rentenpolitik entwickeln.

Denn die Frage nach einem angemessenen Einkommen ist nichts anderes als die Frage: „Wie viel ist eigentlich genug?“ Im Zusammenhang mit der Altersvorsorge bekommt diese einfach Frage eine zentrale Bedeutung für Millionen von Rentnern und Rentenanwärtern: Leider klafft für die Mehrheit von uns, egal ob im Ruhestand oder kurz davor, eine erhebliche Lücke zwischen dem, was wir historisch betrachtet erwarten können und dem, was uns tatsächlich ausgezahlt wird.

In Paris, Athen, ja sogar Peking gehen die Menschen auf die Straße, um ihrem Ärger über die Rentenreformen Luft zu machen. Sollte die Politik nicht umsichtig, ja angemessen reagieren, wird es auch in anderen Städten Demonstrationen geben. Geben Regierungen jedoch dem Druck der Öffentlichkeit nach, besteht die Gefahr, dass sie Entscheidungen verzögern, die für das Altersvorsorgesystem überlebensnotwendig sein könnten.

Doch wie sind wir eigentlich in dieses Dilemma geraten? Der deutsche Kanzler Otto von Bismarck gilt als Urvater des europäischen Sozialversicherungssystems. Um den sozialen Frieden zu sichern führte er 1889 ein Altersvorsorgesystem ein, das zunächst als Invaliditätsversicherung und Subvention für ältere Menschen gedacht war. Da damals das offizielle Renteneintrittsalter bei 70 Jahren lag und die durchschnittliche Lebenserwartung für Männer mit 35 Jahren nur halb so hoch war, kam kaum jemand in den Genuss einer Rente. Die meisten Beitragszahler erreichten nicht das Alter, ab dem sie einen Anspruch auf Leistungen hatten. Und selbst wenn, so bewahrten sie diese Leistungen nur knapp vor dem Hungertod.

Kreativer Lückenfüller: Miniaturen auf festgetretenen Kaugummis sind das Markenzeichen des englischen Künstlers Ben Wilson

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Von Nachhaltigkeit zu Angemessenheit

In den meisten westlichen Ländern liegt das Renteneintrittsalter inzwischen bei 65 Jahren. Viel wichtiger allerdings ist die Lebenserwartung. Sie ist erheblich gestiegen und wird dies weiter tun. Menschen, die 1950 geboren wurden, erreichten im Schnitt ein Alter von 48 Jahren. Wer heute geboren wird, schafft es schon auf 69 Jahre. In höher entwickelten Ländern hat sich die Lebenserwartung sogar von 66 auf 78 Jahre erhöht (UN, 2010). Das bedeutet, dass in Industrienationen der Anteil derjenigen, die weit über ihren Renteneintritt hinaus leben, stetig wächst.

Im Gegensatz zu Bismarcks Zeiten hat sich das Blatt also zugunsten der Rentenempfänger gewendet. Ursprünglich zur Minderung der Altersarmut gedacht, hat sich das Rentensystem in der ersten Säule zu einer staatlichen, umlagefinanzierten Garantie entwickelt. Umlagefinanzierte Systeme basieren auf der Solidarität zwischen den Generationen: die heute arbeitende Bevölkerung finanziert den Ruhestand der vorhergehenden Generation.

Aufgrund einer alternden Bevölkerung und eines fixen Renteneintrittsalters von 65 Jahren nimmt die Zahl derer, die in die Altersvorsorge einzahlen, stetig ab und das System gerät ins Wanken. Während der letzten zwei Jahrzehnte haben Regierungen eine Reihe von Reformen in Angriff genommen, um dem entgegenzuwirken. So sind viele Systeme zwar finanziell nachhaltiger geworden, doch die Pensionäre  von morgen erhalten in der Folge weniger Rente aus der ersten Säule als heutige Rentner.

In vielen Ländern klafft daher eine erschreckende Lücke in der Altersvorsorge. Bei Sparern in der Europäischen Union (EU), die zwischen 2011 und 2051 in Ruhestand gehen, besteht nach Schätzungen des britischen Versicherers Aviva eine Versorgungslücke von €1,9 Billionen ($2,5 Billionen). In seinem Bericht Mind the Gap (2010) sieht der Versicherer die größten Defizite auf Rentner in Großbritannien und Deutschland zukommen. Die Menschen in diesen Ländern müssten ihre jährlichen Ersparnisse um  €12.300 ($16.180) beziehungsweise um €11.600 ($15.260) erhöhen, um die Lücke zu schließen.

In den Vereinigten Staaten, so schätzt das Employee Benefit Research Institute (EBRI), sehen sich  Baby Boomer (Jahrgänge zwischen 1948 und 1964 ) und die „Generation X“ (Jahrgänge zwischen 1965 und 1974 ) einem Defizit von $4,3 Billionen ausgesetzt. (Retirement Income Adequacy for Boomers and Gen Xers, 2012). Auch EBRI hat sich 2003 mit dem Thema Angemessenheit auseinandergesetzt und daraus einen nationalen Maßstab entwickelt. Demnach  müssten  erwerbstätige Ehepaare, die zwischen 1948 und 1954 geboren wurden, zusätzlich $22.000 pro Person sparen.

Bei unverheirateten Männern beträgt dieser Betrag $34.000, bei unverheirateten Frauen $65.000. Um sinkende Renten auszugleichen, bieten Staaten steuerliche und andere Anreize für kapitalgedeckte, betriebliche und private Altersvorsorgemodelle an. Bemühungen, ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Säulen der Altersvorsorge herzustellen, führen dazu, dass sich die erste Säule von einem umlagefinanzierten hin zu einem kapitalgedeckten System entwickelt. In der zweiten Säule (betriebliche Altersvorsorge) hält der Trend von der leistungs- hin zur beitragsorientierten Versorgung an.

Trotzdem müssen Politiker und Aufsichtsbehörden das Gleichgewicht zwischen Nachhaltigkeit und Angemessenheit erst noch finden. Die Frage, wie es den Arbeitnehmern von heute gelingen kann, im Alter ein angemessenes Einkommen und einen vernünftigen Lebensstandard zu erzielen, ist offen. Wird diese Frage nicht umfassend beantwortet, könnte sich für künftige Rentenempfänger eine Versorgungslücke auftun. Schlimmstenfalls droht sogar Altersarmut – also genau jene Geißel, die das Altersvorsorgesystem eigentlich verhindern sollte.

Dagegen stehen die asiatischen Schwellenländer vor völlig anderen Herausforderungen. Als Reaktion auf die rapide Industrialisierung, das wirtschaftliche Wachstum und die Verstädterung installierten diese Länder von Anfang an Altersvorsorgesysteme, die auf dem Multi-Säulen-Modell basieren. Allerdings habendiese neu gestalteten Systeme einen anderen Schwerpunkt: Angemessenheit bedeutet in diesem Teil der Welt, den hohen Anteil nicht gemeldeter Arbeitskräfte zu reduzieren und mehr Menschen in den Genuss irgendeiner Rente zu bringen.

Denn in den Schwellenländern variiert der Anteil der über Rentensysteme abgesicherten Arbeitskräfte nach Angaben der Asian Development Bank zwischen mageren 13% in Vietnam und immerhin 58% in Singapur. Die Bank schlägt daher vor, Angemessenheit anhand von Ersatzrate und Reichweite zu messen (ADB, Enhancing Social Protection in Asia and the Pacific, 2010).

Unterschiedliche Auffassungen von Angemessenheit

Was also ist ein angemessenes Renteneinkommen? Die Frage wird oft mit Bezug auf einen sozialen Faktor wie die Armutsgrenze beantwortet, wie dies auch die Vorsitzende von PensionsEurope, Joanne Segars, im  Gespräch mit PROJECT M tut. Angemessenheit kann aber auch als ein Prozentsatz des Einkommens vor dem Renteneintritt oder als Richtgröße für einen bestimmten Lebensstandard ausgedrückt werden.

Doch auch Armutsgrenze ist nicht gleich Armutsgrenze: In den Vereinigten Staaten verwendet man beispielsweise eine absolute Grenze wohingegen in Europa eine relative Armutsgrenze gilt. Unter sie fällt, wer weniger als 60% des durchschnittlichen nationalen  Äquivalenzeinkommens zur Verfügung hat. Manche Länder haben diese Grenze auf 50% gesenkt.

Eine andere mögliche Definition von Angemessenheit ist die Ersatzrate, das heißt der Prozentsatz des Gehalts, der als Renteneinkommen zur Verfügung steht. Doch selbst dieser Begriff ist nicht eindeutig, sondern hängt davon ab, wie Ersatzrate und Einkommen vor dem Renteneintritt in Bezug gesetzt werden.

Auf dem europäischen Festland, wo die erste Säule dazu dient, einen bestimmten Lebensstandard zu wahren, konzentrierte sich die Ersatzrate auf die erste Säule.  Da aber  die Rentensysteme reformiert werden und sich die drei Säulen gegenseitig ergänzen sollen, müssen neue Quellen für das Renteneinkommen erschlossen  werden. Einige Überlegungen gehen so weit, Einkommen aus Sparkonten, das nicht für die Altersvorsorge gedacht war, zu berücksichtigen. Doch wie hoch die Ersatzrate sein soll, ist auch damit nicht geklärt.

Dieses Verständnis von Angemessenheit hat seine Schwächen, zum Beispiel dann wenn lediglich der Einkommensstand zum Zeitpunkt des Renteneintritts berücksichtigt wird, nicht aber die Einkommensentwicklung über die Dauer des gesamten Ruhestands hinweg. Dies wirft die Frage nach einer Indexierung des Einkommens auf. Je nach Art der Indexierung kann sich eine Lücke ergeben.

Die Auswirkungen dieser Lücke können verheerend sein, wenn die steigende Lebenserwartung des Sparers mit steigender Inflation einhergeht. Allgemein gehen Experten von einer  Ersatzrate von 70% des Einkommens vor dem Renteneintritt aus. Grundlage dieser Einschätzung ist die Überlegung, dass Menschen nach dem Renteneintritt ein geringeres Einkommen benötigen als vorher, weil Ausgaben für Kinder oder Immobilien nicht mehr anfallen.

Andere Wissenschaftler definieren Angemessenheit jedoch auf einem weit höheren Niveau. So hat die OECD gezeigt (Resources During Retirement, 1998), dass Ersatzraten in Deutschland, Frankreich, Italien, den Niederlanden und der Schweiz, wo alle Säulen berücksichtigt werden, ungefähr 80% des Einkommens vor dem Renteneintritt ausmachen. In Großbritannien lag der Prozentsatz etwas darunter.

Angesichts der unterschiedlichen Altersvorsorgesysteme zeigt dieses Ergebnis, dass sich die drei Säulen in hohem Maße ergänzen. Selbst wenn diese Definition für den Großteil der Menschen mit durchschnittlichem Einkommen zutreffend  scheint, sollten Ersatzraten für einkommensschwache Gruppen höher ausfallen und die Einkommensmischung aus jeder der drei Säulen unterschiedlich definiert werden.

Außerdem hängen die Ergebnisse selbstverständlich vom Einkommen vor dem Renteneintritt ab. In Ländern, in denen Arbeitnehmer ihre Arbeitszeit vor dem Renteneintritt freiwillig - oder gar unfreiwillig - reduzieren, kann eine Ersatzrate als Maßstab  in die Irre führen. In diesen Fällen könnte sie die Berechnung der Leistungen verzerren, indem sie den Lebensstandard, an den Rentner gewöhnt sind, als zu niedrig ausweist.

Den Lebensstandard bewahren

Die Europäische Kommission gehörte 2010 zu den ersten, die sich der Frage der Angemessenheit angenommen haben. In  einem zweiten Bericht aus dem Jahr 2012 –Pension Adequacy in the European Union 2010-2050 – erklärt die Kommission, dass angemessene Altersvorsorgesysteme Rentner dazu befähigen sollten, „ihren Lebensstandard zu einem vernünftigen Grad zu wahren“.

Der Ansatz der Kommission verschleiert jedoch eine der wichtigsten Herausforderungen in dieser Debatte: die Definition eines angemessenen Einkommens zum Zeitpunkt des Renteneintritts sowie dessen Erhalt über den Lauf der Zeit. Nach Meinung der Kommission sollten die Ausgaben  einer Person vor und nach dem Renteneintritt sowie das zu erwartende Einkommen berücksichtigt werden. Ein Vergleich beider Größen sollte den Grad der Angemessenheit aufzeigen.

Außer Acht gelassen würden bei dieser Methode jedoch Langlebigkeitsrisiken, Investmentrisiken und die Risiken unversicherter medizinischer Versorgung, wie sie in den USA durchaus vorkommen kann. Selbst wenn die Ausgaben von Rentnern insgesamt geringer sind als die der Berufstätigen können die Kosten für medizinische Versorgung oder Freizeitaktivitäten höher ausfallen als erwartet. Die Höhe der Ausgaben wird also durch verfügbare medizinische Versorgung, Dienste, Zuschüsse oder Sachleistungen der Regierungen bestimmt.

In ihrem Bericht weist die Europäische Kommission darauf hin, dass „eine vollständige Bewertung der Angemessenheit von Renten deshalb den Zugang zu kostenlosen oder bezuschussten Ressourcen von wirtschaftlichem Wert, zu bezuschusstem eigengenutztem Wohnraum, berücksichtigen muss“. Dies zeigt, wie viele Dimensionen Regierungen in Betracht ziehen müssen, wenn sie ein System gestalten wollen, dass es älteren Menschen ermöglicht, einen angemessenen Lebensstandard zu wahren. Und selbst wenn es gelingt, sich auf eine Definition von Angemessenheit zu einigen, so bleibt immer noch offen, wie ein solches Einkommen erreicht werden kann.

Nach der jüngsten Finanzkrise und der zunehmenden Volatilität an den Finanzmärkten hat diese Frage an Bedeutung gewonnen. Besonders schwierig gestaltet sich die Definition von Angemessenheit im Hinblick auf die verschiedenen sozioökonomischen Gruppierungen und für Frauen, deren Lebenslauf oft lange berufliche Auszeiten mit einschließt.

Die soziale Absicherung hat sich seit Bismarcks Zeiten zweifelsohne verbessert hat, doch die Identifizierung und Schließung der Versorgungslücke bleibt weiterhin eine Herausforderung.

Diese Aussagen stehen, wie immer, unter unserem Vorbehalt bei Zukunftsaussagen:

 

Claudia Mohr-Calliet
Allianz SE
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