Von Nachhaltigkeit zu Angemessenheit
In den meisten westlichen Ländern liegt das Renteneintrittsalter inzwischen bei 65 Jahren. Viel wichtiger allerdings ist die Lebenserwartung. Sie ist erheblich gestiegen und wird dies weiter tun. Menschen, die 1950 geboren wurden, erreichten im Schnitt ein Alter von 48 Jahren. Wer heute geboren wird, schafft es schon auf 69 Jahre. In höher entwickelten Ländern hat sich die Lebenserwartung sogar von 66 auf 78 Jahre erhöht (UN, 2010). Das bedeutet, dass in Industrienationen der Anteil derjenigen, die weit über ihren Renteneintritt hinaus leben, stetig wächst.
Im Gegensatz zu Bismarcks Zeiten hat sich das Blatt also zugunsten der Rentenempfänger gewendet. Ursprünglich zur Minderung der Altersarmut gedacht, hat sich das Rentensystem in der ersten Säule zu einer staatlichen, umlagefinanzierten Garantie entwickelt. Umlagefinanzierte Systeme basieren auf der Solidarität zwischen den Generationen: die heute arbeitende Bevölkerung finanziert den Ruhestand der vorhergehenden Generation.
Aufgrund einer alternden Bevölkerung und eines fixen Renteneintrittsalters von 65 Jahren nimmt die Zahl derer, die in die Altersvorsorge einzahlen, stetig ab und das System gerät ins Wanken. Während der letzten zwei Jahrzehnte haben Regierungen eine Reihe von Reformen in Angriff genommen, um dem entgegenzuwirken. So sind viele Systeme zwar finanziell nachhaltiger geworden, doch die Pensionäre von morgen erhalten in der Folge weniger Rente aus der ersten Säule als heutige Rentner.
In vielen Ländern klafft daher eine erschreckende Lücke in der Altersvorsorge. Bei Sparern in der Europäischen Union (EU), die zwischen 2011 und 2051 in Ruhestand gehen, besteht nach Schätzungen des britischen Versicherers Aviva eine Versorgungslücke von €1,9 Billionen ($2,5 Billionen). In seinem Bericht Mind the Gap (2010) sieht der Versicherer die größten Defizite auf Rentner in Großbritannien und Deutschland zukommen. Die Menschen in diesen Ländern müssten ihre jährlichen Ersparnisse um €12.300 ($16.180) beziehungsweise um €11.600 ($15.260) erhöhen, um die Lücke zu schließen.
In den Vereinigten Staaten, so schätzt das Employee Benefit Research Institute (EBRI), sehen sich Baby Boomer (Jahrgänge zwischen 1948 und 1964 ) und die „Generation X“ (Jahrgänge zwischen 1965 und 1974 ) einem Defizit von $4,3 Billionen ausgesetzt. (Retirement Income Adequacy for Boomers and Gen Xers, 2012). Auch EBRI hat sich 2003 mit dem Thema Angemessenheit auseinandergesetzt und daraus einen nationalen Maßstab entwickelt. Demnach müssten erwerbstätige Ehepaare, die zwischen 1948 und 1954 geboren wurden, zusätzlich $22.000 pro Person sparen.
Bei unverheirateten Männern beträgt dieser Betrag $34.000, bei unverheirateten Frauen $65.000. Um sinkende Renten auszugleichen, bieten Staaten steuerliche und andere Anreize für kapitalgedeckte, betriebliche und private Altersvorsorgemodelle an. Bemühungen, ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Säulen der Altersvorsorge herzustellen, führen dazu, dass sich die erste Säule von einem umlagefinanzierten hin zu einem kapitalgedeckten System entwickelt. In der zweiten Säule (betriebliche Altersvorsorge) hält der Trend von der leistungs- hin zur beitragsorientierten Versorgung an.
Trotzdem müssen Politiker und Aufsichtsbehörden das Gleichgewicht zwischen Nachhaltigkeit und Angemessenheit erst noch finden. Die Frage, wie es den Arbeitnehmern von heute gelingen kann, im Alter ein angemessenes Einkommen und einen vernünftigen Lebensstandard zu erzielen, ist offen. Wird diese Frage nicht umfassend beantwortet, könnte sich für künftige Rentenempfänger eine Versorgungslücke auftun. Schlimmstenfalls droht sogar Altersarmut – also genau jene Geißel, die das Altersvorsorgesystem eigentlich verhindern sollte.
Dagegen stehen die asiatischen Schwellenländer vor völlig anderen Herausforderungen. Als Reaktion auf die rapide Industrialisierung, das wirtschaftliche Wachstum und die Verstädterung installierten diese Länder von Anfang an Altersvorsorgesysteme, die auf dem Multi-Säulen-Modell basieren. Allerdings habendiese neu gestalteten Systeme einen anderen Schwerpunkt: Angemessenheit bedeutet in diesem Teil der Welt, den hohen Anteil nicht gemeldeter Arbeitskräfte zu reduzieren und mehr Menschen in den Genuss irgendeiner Rente zu bringen.
Denn in den Schwellenländern variiert der Anteil der über Rentensysteme abgesicherten Arbeitskräfte nach Angaben der Asian Development Bank zwischen mageren 13% in Vietnam und immerhin 58% in Singapur. Die Bank schlägt daher vor, Angemessenheit anhand von Ersatzrate und Reichweite zu messen (ADB, Enhancing Social Protection in Asia and the Pacific, 2010).