Twister in Europa

Trotz Schutz der Alpen wird Deutschland jährlich von Dutzenden Tornados heimgesucht. Einige ziehen unbemerkt vorüber, andere jedoch entwickeln gewaltige Kräfte und hinterlassen erhebliche Verwüstungen.

 

Für Harald Schulte war es lediglich ein weiterer Sonnentag.  Der Abend war heiß und feucht, was aber für den warmen Sommer 2001 nicht ungewöhnlich war. Viele Leute in dem Dorf Belm in Nordwest-Deutschland hofften sogar auf einen abendlichen Regenguss, der ihnen eine angenehme Abkühlung verschaffen sollte. Dann jedoch passierte die Katastrophe. "Es gab plötzlich einen Knall, und ich wurde gegen die Wand gedrückt", erinnerte sich Schulte später an sein Erlebnis mit dem Tornado. "Nach 90 Sekunden war der Spuk vorbei, aber es war alles verwüstet", berichtete er der lokalen Presse.

In den USA gibt es jedes Jahr tausende Tornados. Im Frühjahr und Frühsommer treten Wirbelstürme im mittleren Westen und den südlichen Bundesstaaten häufig auf. Am selben Tag, an dem Moore, Oklahoma, vom Tornado getroffen wurde, verzeichneten die gesamten USA noch sechzehn weitere Wirbelstürme.

Statistisch betrachtet hatte Schulte recht, wenn er sich über die Stärke des Sturms wunderte - nicht jedoch, was sein Auftreten betrifft. Meteorologen definieren Tornados als Luftsäulen, die mit sehr hoher Geschwindigkeit rotieren (auf der nördlichen Halbkugel normalerweise gegen den Uhrzeigersinn). Solche Stürme sind in den Vereinigten Staaten berüchtigt, sie kommen aber auch in Südamerika, dem südlichen Zentral- und Ostasien, Afrika und Australien sowie in West- und Mitteleuropa, einschließlich Großbritannien, den Niederlanden und Deutschland, vor.

 

Schneller, höher, länger

Wenn auch rotierende Luftsäulen in allen diesen Gebieten zu beobachten waren, so unterscheiden sie sich erheblich hinsichtlich der Dauer (von weniger als einer Minute bis zu 3,5 Stunden), der zurückgelegten Strecke (von wenigen Metern bis zu 352 km), Geschwindigkeit (von fast statisch bis zu 117 km/h) und, was am Wichtigsten ist, bezüglich der Stärke.

Laut Markus Stowasser, Meteorologe bei der Allianz Re, ist es schwierig, die Stärke von Tornados zu messen, was die Klassifizierung strittig macht. Die bekannteste Maßeinheit für die Stärke ist die sogenannte Fujita-Skala. Sie reicht von 0 - für einen Tornado, der nur geringfügigen Schaden an Bäumen oder Zelten anrichtet - bis 5, wenn er große Betonbauten zerstört.

 

Der Tornado, der am6. August 2001 das Örtchen Belm heimsuchte, hatte eine Stärke zwischen 1 und 2. "In ganz Deutschland gibt es nur ein paar solcher Stürme pro Jahr, " so Stowasser, "und nur wenige treten genau über einer Stadt auf und richten solch einen verheerenden Schaden an. "Wenn man alle Tornados eines Jahres - einschließlich solcher mit einer Stärke von 0 und 1 - zusammenzählt, dann kommt man in Deutschland auf einen Durchschnitt von 45 jährlich."

 

Diese Zahl ist im Laufe der Jahrzehnte gestiegen, und es gibt Stimmen, die behaupten, dies könne mit der Erderwärmung zusammenhängen. "Es gibt jedoch noch einen weiteren Grund, warum sich derartige Meldungen häufen", erläutert Stowasser. "Mit der Verbreitung von Smartphones und Internet machen die Menschen häufiger Aufnahmen von Tornados und berichten über ihre Entdeckungen in den Sozialen Netzwerken oder der eigens dafür eingerichteten Europäischen Unwetter-Datenbank.”

 

Der Jahrhundertsturm

Allerdings gab es auch in Deutschland Tornados mit Höchststärke. Bernold Feuerstein, Physiker beim Max Planck Institut für Nuklearphysik in Heidelberg und Mitglied der gemeinnützigen Organisation European Severe Storms Laboratory, weist auf einen besonderes gut dokumentierten Fall aus dem Jahre 1764 hin.

 

Zu jener Zeit interviewte ein Pastor, der als Wissenschaftler tätig war, zahlreiche Augenzeugen und hielt den Sturm mit Hilfe etlicher gezeichneter Karten fest, aus denen hervorgeht, wie er in der Nähe des Dorfes Feldberg in Mecklenburg niederging. Seine Beschreibung geschädigter Gebäude und entwurzelter Bäume legt nahe, dass der Tornado eine Stärke von 5 erreicht haben musste - genau wie ein anderer Sturm 1800, der das Dorf Heinichen in Sachsen verwüstete.

 

Solche Ereignisse sind immer noch selten verglichen mit den USA, wo gewöhnlich ca. 1200 Tornados jährlich registriert werden. Ungefähr 90 % davon betreffen die zentralen Tiefebenen zwischen den Rocky Mountains und den Appalachen, ein Gebiet, das etwa drei Mal so groß ist wie Deutschland und oft auch als "Tornado Alley" (Tornadogasse) bezeichnet wird.

 

Keine andere Region der Welt verfügt über eine Geografie, die so prädestiniert ist für den perfekten Sturm. Dort treffen zunächst einmal die warme und feuchte Luft des Golfs von Mexiko, die sich nach Norden mühelos und ungebremst durch Berge ausbreitet, und kalte, trockene Luft aus Kanada und den Rockies im Westen aufeinander.  Aufgrund der extremen Temperatur-Unterschiede steigt die warme, feuchte Luft dann besonders schnell durch die kalte Luft nach oben. Das wiederum führt dazu, dass die warmen Luftmassen kondensieren, Hitze freisetzen und ihren eigenen Aufwärtstrend auf dem gesamten Weg durch die Troposphäre (etwa auf 10 Kilometern Höhe) beschleunigen.

Markus Stowasser: "Wenn man alle Tornados ein Jahres - einschließlich solcher mit einer Stärke von 0 und 1 - zusammenzählt, dann kommt man in Deutschland auf einen Durchschnitt von 45 jährlich."
Markus Stowasser: "Wenn man alle Tornados eines Jahres - einschließlich solcher mit einer Stärke von 0 und 1 - zusammenzählt, dann kommt man in Deutschland auf einen Durchschnitt von 45 jährlich."

Kein Ritt auf der "Tornado-Autobahn"

Damit sich ein Tornado aus diesen instabilen Luftschichten entwickeln kann, muss eine zweite Voraussetzung erfüllt sein: die Windscherung. Sie beschreibt die Änderung der Windgeschwindigkeit und der -richtung über die verschiedenen Schichten der Atmosphäre hinweg. Dieser Scherungseffekt wirbelt die aufsteigende Luft um und kann sie so in einen Tornado verwandeln.

 

Im Unterschied dazu gibt es in Europa keine solche "Tornado-Autobahn". Zwei Punkte sind völlig anders als in den Vereinigten Staaten, erläutert Bernold Feuerstein. Erstens bilden die Alpen eine Barriere von Ost nach West, die die Luft auf ihrem Weg über den Kontinent abbremst und quasi als Tornado-Schild fungiert. Allerdings gibt es ein Gebiet, dass gefährdeter ist: Die Nordeuropäische Tiefebene, die sich von Nord- und Ostsee über das deutsche Mittelgebirge erstreckt, wo auch das Dorf Belm liegt.

 

In diesem Bereich kann sich die Luft ungehinderter ausbreiten. Hier jedoch kommt ein zweiter Unterschied gegenüber den USA ins Spiel: Für Tornados braucht es auch Windscherung - und die ist in Europa weniger wahrscheinlich, da die Luftströme in der Atmosphäre, auch unter der Bezeichnung „Jetstreams“ bekannt, anders verlaufen als in den USA.

 

"Interessanterweise scheinen sich Tornados, wenn sie dann in West- und Mitteleuropa auftreten, häufiger über hügeliger Landschaft zu entwickeln", merkt Feuerstein an. Eine Erklärung ist, dass die raue Oberfläche lokal eine geringe Windscherung begünstigt, was zur Entstehung kleiner Tornados beitragen kann. Für gewöhnlich ist das jedoch nicht stark genug, um eine Sturmspirale aufrecht zu erhalten. Diese bricht dann nach weniger als einer Minute wieder zusammen.

 

Selten aber furchterregend

Die geophysikalischen Unterschiede führen dazu, dass Tornados in Europa weniger oft vorkommen als in den USA. Dies wird allerdings durch die Humangeografie konterkariert. Es leben nämlich mehr Menschen im Norddeutschen Tiefland als in der Tornadogasse der USA, so dass sogar schwächere Stürme vergleichsweise großes Unheil anrichten können.

 

Das Ausmaß zeigt eine kürzlich veröffentliche Studie des Rückversicherers Munich Re. In den vergangenen 20 Jahren gab es in Deutschland neun Tornados, die für Schäden in Höhe von mindestens zehn Millionen Euro (13,25 Millionen US-Dollar) verantwortlich waren. Einer traf 2010 das sächsische Dorf Großenhain und verursachte Schäden im Werte von 108 Millionen Euro (143 Millionen US-Dollar). Auch ein sechsjähriges Mädchen kam dabei ums Leben.

 

Das war auch die größte Angst von Schulte vor einigen Jahren in Belm. "Das erste, was ich tat, war nach meinem Enkelkind zu schauen", erinnert er sich. Das Kleinkind lag noch im Bett und war nur kurz aufgewacht, bevor es dann wieder einschlief. "Da wurde mir erst bewusst, dass wir wirklich Glück hatten."

Im Unterschied dazu gibt es in Europa keine solche "Tornado-Autobahn". Trotzdem gefährdet: Die Nordeuropäische Tiefebene, die sich von Nord- und Ostsee über das deutsche Mittelgebirge erstreckt.
Im Unterschied dazu gibt es in Europa keine solche "Tornado-Autobahn". Trotzdem gefährdet: Die Nordeuropäische Tiefebene, die sich von Nord- und Ostsee über das deutsche Mittelgebirge erstreckt.

Diese Aussagen stehen, wie immer, unter unserem Vorbehalt bei Zukunftsaussagen:

 

Katerina Piro
Allianz SE
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