Europäische Visionen prominenter Politiker

Ein voller Theatersaal am Sonntag morgen ließe von Europamüdigkeit nichts spüren, bemerkte Henning Schulte-Noelle, Aufsichtsratsvorsitzender der Allianz SE, der gemeinsam mit Intendant Dieter Dorn und SZ-Chefredakteur Hans Werner Kilz am 14. Januar die Allianz Lectures 2007 eröffnete. Die Allianz Kulturstiftung organisiert die Veranstaltungsreihe zum zweiten Mal in Zusammenarbeit mit der Süddeutschen Zeitung und dem bayerischen Staatsschauspiel.

Mit der deutschen EU-Ratspräsidentschaft rückt Europa wieder stärker ins Bewusstsein der Deutschen. Außerdem jährt sich 2007 zum fünfzigsten Mal die Verabschiedung der Römischen Verträge, die die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft besiegelten. Schließlich wurde zu Beginn des Jahres die fünfte Erweiterungsrunde mit dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens erfolgreich abgeschlossen. Genug Stoff für eine spannende Debatte.

Frank-Walter Steinmeier erklärte das Zeitalter kleiner Nationalstaaten für beendet

"Das Zeitalter der kleinen Nationalstaaten ist vorbei", erklärte Frank-Walter Steinmeier in seiner ersten politischen Grundsatzrede der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Dies sei auch eine Folge der europäischen Einigung, der weltweit wichtigsten Erfolgsgeschichte der letzten 50 Jahre.

Diese "Erfolgsstory" stünde im Widerspruch zu einer weit verbreiteten Europaskepsis. Deswegen müssten die Medien mit mehr Leidenschaft über Europa berichten: Die Menschen fühlten oft sich schlecht informiert. Die EU gehöre aber zum Besten, was Europa je geschaffen habe, sagte Steinmeier. "Die Einigung Europas ist die richtige, vielleicht die einzige Antwort auf die größte Herausforderung unserer Zeit: die Globalisierung."

Kein anderes Land habe von der Osterweiterung mehr profitiert als Deutschland. Eine "engagierte Nachbarschaftspolitik" verlange, dass Europa auch strategische Konzepte für benachbarte Länder und Regionen entwickle: Je mehr Länder dem europäischen Modell folgten, desto besser für alle.

Von links: Außenminister Steinmeier, Hans Werner Kilz, die griechische Außenministerin Dora Bakojannis und Mario Monti; Fotos: Robert Haas

Ein weiterer Schwerpunkt von Steinmeiers Rede war das Verhältnis der EU zu den Anrainerstaaten. Neben dem Ausbau der Nachbarschaft mit den Maghreb-Staaten solle man auch der Türkei eine faire Chance auf den EU-Beitritt geben. Als EU-Mitglied könne die Türkei eine Brücke zu einem toleranten, "aufgeklärten Islam am südöstlichen Zipfel unseres Kontinentes" bieten. Diese Chance leichtfertig zu verspielen wäre laut Steinmeier ein historischer Fehler.

Die Partnerschaft mit Russland sei ein ebenfalls wichtiges, aber schwieriges Thema, räumte der Bundesaußenminister ein – schließlich sei das Land noch keine lupenreine Demokratie. Die Beziehungen Europas zu Russland seien aber langfristig angelegt, wegen der Energieversorgung, aber auch weil Europa erhebliche wirtschaftliche Interessen in Russland verfolge und sich an dessen Wohlstandsentwicklung beteiligen wolle.

Für Deutschland bedeuteten der Fall der Mauer und das Ende der Nachkriegszeit auch das Ende des Sonderstatus der alten Bundesrepublik und mehr Verantwortung. Auch entfernte Konflikte hätten nun eine direkte Auswirkung. "Deutschland muss internationaler werden", forderte Steinmeier. "'Raushalten' lässt keiner mehr durchgehen."

Abschließend bemerkte Steinmeier, dass noch viel Arbeit bevorstehe: Europäische Visionen seien auf 20 oder 30 Jahre angelegte Projekte. Als Beispiel nannte er eine zukünftige europäische Armee. Selbst das Aussterben der Spezies "deutscher Außenminister" könnte in diesem Jahrhundert Realität werden.

Dora Bakojannis forderte Klarheit gegenüber der Türkei

Steinmeiers griechische Amtskollegin Bakojannis ergriff als nächste das Wort. In einwandfreiem Deutsch, denn sie hat in München studiert, zitierte sie Bismarck und Churchill und hielt ein Plädoyer für ein starkes Europa. Griechenland gehöre zu den Befürwortern der EU-Verfassung und wäre enttäuscht, wenn diese nicht von allen ratifiziert würde. Für diesen Fall sei eine neue "Mini-Verfassung" der beste Weg, um einen Konsens auf breiter Basis zu retten.

Der Erfolg der EU zeige sich auch in der Erweiterung und stelle gleichzeitig eine Herausforderung dar: Um 27 Mitgliederstaaten gemeinsam vorwärts zu bewegen, seien Modernisierung, mehr Transparenz und eine verständlichere Amtssprache dringend von Nöten in der EU. Für Europa wünschte sie sich "mehr Politik und weniger Technokratie".

Für manche überraschend sprach sich Dora Bakojannis ebenfalls für den EU-Beitritt der Türkei aus, denn eine demokratische und europäische Türkei mit einem aufgeklärten Islam sei für Europa und für Griechenland eine Stabilitäts- und Sicherheitsgarantie.

Gegenüber der Türkei sollte Klarheit herrschen: "Full compliance equals full membership - wenn alle Bedingungen erfüllt sind, nehmen wir euch auf." Dies sei heute aber noch nicht der Fall. Ihrerseits könne auch die Türkei keine Sonderkonditionen erwarten.

Der Italiener Mario Monti stimmte mit der griechischen Außenministerin überein, dass angesichts des Votums gegen die EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden ein "Mini-Vertrag als Maxi-Fortschritt" angesehen werden könne. Steinmeier war in diesem Punkt zurückhaltender, denn die deutsche EU-Ratspräsidentschaft sehe sich auch gegenüber den 18 Staaten verpflichtet, die die Verfassung bereits ratifiziert haben. Zur EU-Reform werde es im Juni einen konstruktiven Vorschlag aus Berlin geben.

Der ehemalige Wettbewerb- und Binnenmarktkommissar Monti äußerte sich zudem kritisch gegenüber Regierungschefs, die internationale Fusionen im Namen nationaler Interessen zu verhindern suchten. Europa werde heute von den USA auf drei Gebieten ernst genommen: In der Handels-, der Wettbewerbs- und der Finanzpolitik. Hier habe sich trotz gelegentlicher Differenzen eine vertrauensvolle Kooperation etabliert.

Auch wehrte Monti Bakojannis Vorwurf  ab, die "Accountability" von EU-Politikern ließe zu wünschen übrig. Das EU-Parlament werde von vielen in seiner Macht unterschätzt und die EU-Kommission habe hohe Rechenschaftspflichten gegenüber dem Parlament, die es so in nationalen Parlamenten nicht gäbe.

Mario Monti: "Mini-Vertrag als Maxi-Fortschritt"

Nach diesem Auftakt diskutieren am 21. Januar in der zweiten Allianz Lecture die Staatsministerin im Bundeskanzleramt für Migration, Flüchtlinge und Integration, Maria Böhmer, und der Wissenschaftler Werner Schiffauer gemeinsam mit einer deutschrussischen Schriftstellerin, einer afro-deutschen Popsängerin und einem jungen Imam aus Bayern über Strategien für eine bessere Integration ausländischer Mitbürger.

Aufsichtsratsvorsitzender Henning Schulte-Noelle äußerte sich zufrieden nach der Veranstaltung: "Ich freue mich, dass die Allianz Lectures nun schon zum zweiten Mal stattfinden. Schließlich gehört es zu den Hauptzielen der Allianz Kulturstiftung, die Einigung Europas zu fördern. Die Auftaktveranstaltung war sehr gelungen und ich bin gespannt, wie es in den nächsten Wochen weiter geht."