Ein Jahr nach der Flut: »Das Ausmaß der Katastrophe ist extrem«

Herr Haug, inzwischen ist fast ein Jahr vergangen. Wenn Sie jetzt zurückblicken: Was ist Ihr erster Gedanke?

Das Ausmaß der Katastrophe war extrem und nicht vergleichbar mit anderen schweren Ereignissen in den vergangenen Jahren. Besonders die hohe Zahl an Toten hat mich sehr betroffen gemacht. Was das bedeutet, wird einem erst richtig bewusst, wenn man vor Ort ist. Ich hatte mit vielen Kundinnen und Kunden gesprochen. Und es gab viele, die Familienmitglieder, Freunde oder Nachbarn verloren hatten. Auch unsere Vertreter vor Ort waren mit ihren Familien, Häusern oder Agenturen teilweise schwer betroffen. Die Schilderungen der Menschen, die diese Nacht und die darauffolgenden Tage erlebt haben, die vergisst man nicht.

Was mich aber auch sehr beeindruckt hat, war die große Hilfsbereitschaft. Egal ob Aufräumen, Einrichtung von Notfallküchen, Geld- oder Sachspenden. Das war unglaublich.

Welche Herausforderungen gab es bei der Schadenregulierung?

Unmittelbar nach der Katastrophe mussten wir ganz neu denken: Im Ahrtal war die Infrastruktur zerstört, ganze Orte abgeschnitten. Telefon und Internet funktionierten nicht. Wie können wir unsere Kunden und Vertreter erreichen? Wer ist wie betroffen? Was wird dringend gebraucht? Das war für uns eine ganz neue Situation. Bereits am nächsten Tag haben wir unsere Schadenregulierer aus ganz Deutschland zusammengezogen und in die betroffenen Regionen geschickt. Uns war klar, dass wir priorisieren müssen. Ein vollgelaufener Keller ist ein Ärgernis für den Kunden, und auch hier ist eine schnelle und unkomplizierte Schadenregulierung wichtig. Aber andere standen vor dem Nichts. Entweder war das Haus schwer beschädigt oder gar nicht mehr da.
Also haben wir bei einer Schadenmeldung von schwer betroffenen Kunden eine Sofortzahlung von bis zu 10.000 Euro veranlasst – ohne dass irgendwelche Nachweise eingereicht werden mussten. So konnte das Nötigste gekauft und ein Hotelzimmer bzw. eine Ferienwohnung angemietet werden. Zudem wiesen uns unsere Vertreter darauf hin: Alles ist nass, und wir haben keinen Strom. Also haben wir mithilfe unseres Allianz Handwerkerservice rund 2000 Trocknungsgeräte und mehr als 100 Stromaggregate gekauft und in die Region zu unseren Kunden transportiert. Unsere Vertreter vor Ort organisierten die Verteilung, denn sie wussten, wo die Geräte dringend benötigt wurden.

Das klingt, als wäre alles perfekt durchgeplant gewesen?

Natürlich sind wir auf schwere Naturkatastrophen vorbereitet. Aber »Bernd« stellte uns vor besondere Herausforderungen und zeigte, wo wir unsere Prozesse ändern oder anpassen müssen. Damit wir schnelle Entscheidungen treffen konnten, haben wir einen crossfunktionalen Krisenstab eingerichtet. So konnte zum Beispiel die Entscheidung für den Kauf von Notstromaggregaten und Trocknungsgeräten ohne große Abstimmungsschleifen getroffen werden. Unsere Vertreter vor Ort nahmen die Schäden der Kunden auf. Doch wie gelangen diese Meldungen und die Information, was dringend benötigt wird, zur Allianz und zum Krisenstab? Auch hier eine Situation, die wir vorher noch nicht hatten. Mitarbeiter der Geschäftsstelle fuhren bzw. liefen in die Orte, um die Unterlagen abzuholen. Denn teilweise waren die Orte mit dem Auto noch gar nicht erreichbar. Es war eine Extremsituation. Und diese war für alle vor Ort emotional enorm belastend. Deshalb hatten wir einen psychologischen Telefondienst eingerichtet, mit dem unsere Mitarbeiter, Vertreter und Kunden über ihre Erlebnisse sprechen und damit beginnen konnten, das Erlebte zu verarbeiten.

Nun ist ein Jahr vergangen. Sind inzwischen alle Schäden abgeschlossen?

Die Kfz- und Hausratschäden sind nahezu vollständig reguliert. Bei den Gebäudeschäden sind mehr als 80 Prozent abgeschlossen. Bei den fehlenden knapp 20 Prozent sind wir auf einem guten Weg und gehen davon aus, dass die wesentliche Wiederherstellung und Wohnbarmachung der Gebäude bis Jahresende durchgeführt ist. Hier darf man nicht vergessen, dass ein zerstörtes oder weggeschwemmtes Fahrzeug oder Hausratsgegenstände unkompliziert als Totalschaden ausgezahlt werden kann. Bei einem beschädigten oder zerstörten Gebäude sieht das anders aus. Soll und darf es wieder an derselben Stelle aufgebaut werden? Wann liegt die Baugenehmigung vor? Strom- und Wasseranschlüsse sowie die öffentliche Infrastruktur müssen erst wiederhergestellt werden, bevor man weitere Schritte planen kann. Eine vollständige Trocknung eines Gebäudes dauert viele Monate – vorausgesetzt, es gibt Strom und ein Trocknungsgerät. Viele Handwerker in der Region waren selbst betroffen oder die Auftragsbücher waren voll. Hier konnten wir mithilfe des Allianz Handwerkerservice auch aus anderen Regionen Deutschlands unterstützen. Aber auch das notwendige Material muss vorhanden und lieferbar sein. Aber wie ein Kunde in unserer aktuellen Filmreportage sagte: »Man sieht ein Licht am Ende des Tunnels.»
Allianz Versicherung AG board member Jochen Haug (left) and Jens Grote, Member of the Board of Management of Allianz Beratungs- und Vertriebs AG, at the scene of the catastrophe
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