„Er konnte viel, aber nicht genug.“ Shulamit Volkov muss fast ein wenig lachen, als sie diese Worte wählt. Weil sie sich einfach anhören, aber trotzdem so treffend zusammenfassen, was die neue Allianz-Gastprofessorin in der letzten Stunde diskutiert hat. In ihrem Vortrag zeichnet sie das Portrait eines umstrittenen Politikers, eines großen Industriellen, vor allem aber das einer gespaltenen Persönlichkeit.
Walther Rathenau entstammt einer angesehenen jüdischen Familie, sein Vater Emil gründet 1883 die „Deutsche Edison-Gesellschaft für angewandte Elektricität“ (später AEG). Obwohl die Familie zur gesellschaftlichen Elite gehört, ist sie oft antisemitischen Stimmungen ausgesetzt, worunter besonders Walther Rathenau sein Leben lang leidet. So wird er zitiert: „In den Jugendjahren eines jeden deutschen Juden gibt es einen schmerzlichen Augenblick, an den er sich zeitlebens erinnert: wenn ihm zum ersten Male voll bewusst wird, dass er als Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten ist und keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn aus dieser Lage befreien kann.“
Ein „unnützer und grundloser Krieg“
Sein schwieriges Verhältnis zur eigenen Identität spiegelt sich auch in seiner zwiespältigen Einstellung zu Krieg und Patriotismus wieder. „Ihm selbst war nicht zuletzt durch sein Judentum eine große militärische Karriere verwehrt geblieben“, schlussfolgert Volkov. Kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 ist Rathenau noch überzeugt, dass sich dieser aus seiner Sicht „unnütze und grundlose Krieg“ vermeiden ließe. Er kritisiert den Enthusiasmus der Bevölkerung und bezeichnet die Regierung als „Schlafwandler“.
Ungeachtet dessen treiben seine großen Ambitionen, die durch die hohen Erwartungen seines Vaters noch verstärkt werden, auch seine politische Karriere voran. Noch im Jahr des Kriegsbeginns legt er der preußischen Regierung seine Pläne für die Einrichtung einer Kriegsrohstoffabteilung (KRA) vor. Die großen Erfolge, die das Ministerium dann unter seiner Führung erzielt, bringen Walther Rathenau jedoch in ein Dilemma, so Shulamit Volkov: „Seine Arbeit sicherte Deutschlands Überleben und führt damit zur Verlängerung eines Krieges, den er selbst nie wollte.“
„Rathenau war oft beleidigt“
Nach Kriegsende wird Rathenau 1922 schließlich Außenminister der Weimarer Republik. Eine starke Rolle Deutschlands ist ihm wichtig, sein Verhältnis zum Patriotismus jedoch schwierig. Er pflegte schon vor seiner Amtszeit eine gewisse Nähe zur politischen Elite und war gleichzeitig ihr größter Kritiker. Rathenau war eigensinnig und provokant: „Er war oft beleidigt“, merkt Volkov mit einem Augenzwinkern an.
Dieser Politikstil macht ihn zum Ziel zahlreicher Drohungen, sein Leben führt Rathenau aber normal weiter und verzichtet auf Polizeischutz. Im Sommer 1922 wird er Opfer eines tödlichen Anschlags der rechtsextremistisch-nationalistischen Organisation Consul.
Rathenaus impulsives, unvernünftiges, aber oft auch sehr verletzliches Wesen stand immer in starkem Kontrast zu seinem politischen Auftreten: hier agiert er zurückhaltend, kontrolliert und vorausschauend. Shulamit Volkov: „Rathenau hatte mehr Sicht, aber auch sein Einfluss war begrenzt, seine Vernunft nicht ausreichend“. Er konnte eben viel, aber nicht genug.